Der Kampf um die menschliche Mitte II

Ein spiritueller Beitrag zu der gegenwärtigen Entwicklung der Wissenschaften



Je unabhängiger der Mensch im Zuge der Bewusstseinsentwicklung von seinem eigenen Körper wird, desto stärker wird auch die Tendenz, Körperfunktionen zu „verobjektivieren“ und den Menschen wiederum an diese zu binden. In der USA vorangetriebenen Digitalisierung und Vernetzung der Welt können wir beispielsweise das Abbild des Nervensystems erkennen. Hinter dem hochgehaltenen Ideal der Freiheit sind somit Tendenzen wahrzunehmen, die im Widerspruch zu einer innerlich freien, geistigen Entwicklung der Individualität stehen
Immer mehr besorgte Menschen warnen vor Gefahren, die durch die Entwicklung modernster Technologien drohen. Aber sogar wenn nunmehr manche Wissenschaftler auffordern, die weiterführende, ihnen besonders gefährlich erscheinende Entwicklung zu unterlassen, kann dieser Versuch nur wenig Erfolg haben. Denn in die Kulturentwicklung wirken Kräfte hinein, die nicht allein durch die seelischen Eigenschaften der Menschen oder den Willen einzelner erklärbar sind. Wie die „Volksseele“ nicht nur durch die Summe der einzelnen Individuen eines Kulturraumes gebildet wird, so können wir auch den gegenwärtigen „Zeitenstrom“ nicht durch die Summe der Völker allein erklären. Seine allgemein umfassende Wirksamkeit übertrifft bei weitem unsere bewussten Möglichkeiten. Er durchströmt und einigt uns in einem bestimmten Bestreben. Wir sprechen vom „Zeitgeist“, von teilweise plötzlich einsetzenden Impulsen und Bewegungen innerhalb der Geschichte, von der einzelne Menschen, Gemeinschaften, Völker oder die Menschheit als Ganzes ergriffen werden. Es sind Wellenbewegungen, welche zu bestimmten Zeiten auftreten und in kurzem Zeitraum große Veränderungen im Bewusstsein und Kulturleben der Menschen bewirken.
Auf den unterschiedlichsten Gebieten der Gegenwart, sei es die Selbstwahrnehmung der Menschen oder die neuesten Errungenschaften der Technik, weist ein Wandel darauf hin, dass die gesamte Kultur der Erde im Begriff ist, eine neue Ebene des Seins zu ergreifen. So wird vom aufkommenden „Lichtzeitalter“, vom „Wassermannzeitalter“ oder in der Anthroposophie von jener Zeit gesprochen, in der „der Christus im Ätherischen“ immer mehr Menschen erkennbar sein wird. Diese Begriffe betonen den fördernden, positiven Aspekt der gegenwärtigen Kultur.
Doch der Strom der Evolution fließt nicht linear. Jede innere Entwicklung ist damit verbunden, dass sich der Mensch von den ihn hemmenden Eigenschaften vorerst abwendet und sie dadurch z.B. in Form der Technik aus sich heraus in die äußere Welt setzt. Diese entwickeln jedoch im laufe der Zeit ein Eigenleben und sind so lange das Spiegelbild seiner Unvollkommenheit, bis er die innere Reife erlangt hat, sie einst wieder zu erlösen.

Der Traum von der Menschmaschine
Einige Computerwissenschaftler stellen fest, dass der Mensch durch seine physisch-biologische Begrenzung mit der Geschwindigkeit der maschinellen Informationsverarbeitung nicht Schritt halten kann und die weitere Entwicklung dahin gehen soll, diese Begrenzung zu überwinden.
Der entscheidende Unterschied zu einer spirituellen Anschauung liegt darin, dass sie glauben, dies könne nur durch ein „Maschinenwesen“ erreicht werden. Das neue Geschöpf der Evolution soll entweder eine Verschmelzung von Mensch und Maschine sein oder den Menschen völlig verdrängen. Diese Vorstellungen sind aus einem gedanklichen Hintergrund zu verstehen, der die Phänomene Bewusstsein und Intelligenz als das Ergebnis hinlänglich komplexer und schneller Rechenleistung begreift. Peter Fromherz, Leiter der Membran- und Neurophysik am Max-Plank-Institut für Biochemie in Martinsried bei München, arbeitet an der berührungslosen Koppelung von Zellen und Halbleitern, durch die eine Verbindung von Nervenzellen (Neuronen) mit elektrischen Geräten möglich werden soll. Er hält sowohl den Versuch, von diesem Nervennetzwerk auf die Funktion des Gehirns zu schließen, als auch die Behauptung, dass Computer in einigen Jahrzehnten die Leistung des menschlichen Gehirns erreichen können, für eine Utopie. So stellt Fromherz fest: „Die direkte Übersetzung von Bits in die Leistungsfähigkeit unserer Neuronen ist hirnverbrannt. Die Signalübertragung im Innern der Nervenzellen ist etwa eine Million mal langsamer als diejenige in Halbleitern.“ Und trotzdem ist unser Gehirn viel leistungsfähiger als ein Rechner. „Irgendein Trick ist dabei, den wir nicht verstehen.“
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Das große Interesse an der Funktion des Gehirns und der Möglichkeit, durch Nano- und Gentechnologie die Intelligenz des Menschen künstlich zu steigern, wie es der bekannte Physiker Stephen Hawking fordert, oder intelligente, dem Menschen überlegene Maschinen zu bauen, hängt unter anderem mit der Auffassung zusammen, dass mit der gegenwärtigen menschlichen Intelligenz den wachsenden Anforderungen der Zukunft nicht entsprochen werden kann. Diese Vorstellung entsteht, wenn die spirituelle Ebene des Lebens und deren Gesetzmäßigkeit nicht in die eigene Weltanschauung einbezogen wird. Denn äußere Verhältnisse sind nach dieser Gesetzmäßigkeit nur ein Abbild der inneren Entwicklung des Menschen, so dass die Herausforderungen trotz anscheinender Diskrepanz immer im Einklang mit dem sich entfaltenden Bewusstsein stehen. Besonders seit der Mensch die Bewusstseinsseele entwickelt, ist er in der Lage, nicht nur auf Anregungen von außen zu reagieren, sondern aus dem Hintergrund des innerlich seelisch Erlebten in die Welt zu schauen und sein Wissen über diese zu vertiefen.

Auf dem inneren Entwicklungsweg der Seele haben wir die Erfahrung eines sich über die Begrenzungen des Körper hinaus weitenden Bewusstseins. Doch können wir in diesem sich ins Grenzenlose weitenden „Seelenraum“ auch eine Art entgegengesetzter Bewegung feststellen: Die sich ins Unendliche dehnende lineare Zeit, die Dauer erfordert, wird immer „kürzer“, bis das Wahrnehmen der „Gleichzeitigkeit“ aller Ereignisse erfahren werden kann. Die Seele wird grenzenloser Raum und die Zeit darin zu einem dimensionslosen Punkt, so dass Raum und Zeit in einem Zustand des gegenwärtigen Werdens verschmelzen und so den Quellpunkt allen Seins bilden.
Am folgenden Beispiel soll aufgezeigt werden, wie sich diese Gesetzmäßigkeiten der inneren Entwicklung in den äußeren Verhältnissen des sich wandelnden Kulturlebens abbilden.

Von Newton über Einstein zur Quantenphysik
In der Kulturentwicklung ist mit den Fähigkeiten des Menschen, die verschiedenen Elemente vom Festen zum immer Feineren zu ergreifen und sich dienstbar zu machen, auch eine Bewusstseinserweiterung feststellbar, welche die ganze Erde immer mehr zu umfassen und den Kosmos zu durchdringen beginnt, die Zeit dabei jedoch zunehmend ihren linearen Charakter verliert
Am Anfang der menschlichen Entwicklung wird vorwiegend der naheliegende, noch zu Fuß erreichbare Umraum erkundet. Mit der wachsenden inneren Aufrechte, der sich entfaltenden Neugierde und dem zunehmenden Mut wendet sich der Mensch dem fließenden „Wasser“ der Flüsse zu, welche ihn über sein angestammtes Gebiet hinaus führen, wodurch er fernen Völkern begegnet. Erst die vom „Wind“ getriebenen Segelschiffe weiten seinen Horizont über den eigenen Erdteil hinaus und es entsteht ihm das Bild der ganzen Erde mit ihren verschiedenen Kontinenten. Das Ergreifen des Elementes der „Wärme“ ermöglicht die Entwicklung der Dampfmaschine und später des Verbrennungsmotors als Antrieb für Fahrzeuge wie Züge, Schiffe und Flugzeuge; ein weltumspannender Handel und das sich Begegnen von weit voneinander entfernt lebenden Menschen wird alltäglich. Die der Sinneswahrnehmung nicht mehr zugängliche „Elektrizität“ und damit verbundene neue Technologien schließlich führen sogar zu einer weltweiten Kommunikation ohne die Notwendigkeit körperlicher Begegnung. Mit der weiteren Entwicklung der Elektronik und der Einsetzbarkeit der Wärme für den Antrieb von Raketen beginnt der Mensch dann den Weltraum zu durchdringen. Der ihn nun im Weltraum umgebende leere Raum kann nur durch die elektromagnetischen Wellen, die keinen physischen Träger benötigen, für die Kommunikation überwunden werden.
Das Verhältnis zu Zeit und Raum ist somit während der ganzen Kulturentwicklung kein statisches gewesen und dennoch lebte es als solches in den Vorstellungen der Menschen. Es fand schließlich in dem 1687 erschienenen Werk „Principia Mathematica“ von Isaak Newton in Form eines mathematischen Modells seinen wissenschaftlichen Ausdruck. Newton bestätigt darin die allgemeine Vorstellung, dass Zeit und Raum den passiven Hintergrund aller Ereignisse bilden und durch diese in keiner Weise beeinflusst werden. Die Zeit wurde als eine sich in alle Ewigkeit ausdehnende Linie gedacht. Die Begriffe Newtons vom absoluten Raum und von einer absoluten Zeit bildeten die Grundlage seiner Bewegungsgesetze, nach denen wir einen davoneilenden Lichtstrahl einholen können, wenn wir uns nur schnell genug bewegen. Diese Anschauung beherrschte das physikalische Weltbild, bis Albert Einstein in den Anfängen des 20. Jahrhunderts die „spezielle Relativitätstheorie“ entwickelte.
Einstein begann sich mit einem zu seiner Zeit bereits bekannten widersprüchlichen Phänomen zu beschäftigen: Während die alltägliche Erfahrung zeigt, dass z.B. ein Stein, der im fahrenden Zug einmal in und dann entgegen der Fahrtrichtung geworfen wird, aufgrund der Eigenbewegung des Zuges für den äußeren Beobachter unterschiedliche Geschwindigkeiten annimmt, so hatten Messungen ergeben, dass die Geschwindigkeit, mit der sich Licht bewegt, vollkommen unabhängig von jedem anderen sich in Bewegung befindlichen System immer konstant ist.
Würde demnach ein Raumfahrer mit einem Raumschiff, welches 50 Prozent der Lichtgeschwindigkeit (150.000km/s) erreicht, einem „Lichtstrahl“ hinterher fliegen, so würde er feststellen, dass sich das Licht trotzdem mit der Konstante „c“ (300.000km/s) von ihm entfernt. Die gleiche Beobachtung würde er mit dem ihm nacheilenden Licht machen, das sich ihm unabhängig von seiner Eigengeschwindigkeit mit der Konstante „c“ nähert. Ein äußerer Beobachter könnte diese Erfahrung des Astronauten jedoch nicht bestätigen, da sonst für ihn das Licht eine Geschwindigkeit von 450.000km/s hätte. Als Konsequenz dieses Gedankenganges ergibt sich eine unterschiedlich „reale“ Zeitdauer für die beiden Perspektiven. Diese Feststellung lässt sich mit dem Weltbild Newtons nicht mehr in Einklang bringen.
Eine weitere Erkenntnis Einsteins ist die über die Beziehung zwischen Masse und Energie. Daraus geht hervor, dass keine Information schneller als das Licht übermittelt werden kann, da um ein Teilchen über die Lichtgeschwindigkeit zu beschleunigen, eine unendliche Energiemenge benötigt würde. Für seine Gedankengänge sind jedoch zwei relativ zueinander sich bewegende Systeme notwendig: Ein Subjekt und ein Objekt, welche sich getrennt voneinander erleben, erfahren die Relativität der Welt. Dadurch bewegen wir uns aber weiterhin in einem Raum: demjenigen der Vorstellungen nämlich.
Erst wenn das Licht selbst zum Forschungsobjekt wird, beginnen sich neue, die physische Welt überschreitende Zusammenhänge zu offenbaren. Der Begriff der „Qualität“ gewinnt immer mehr an Bedeutung. Qualität beschreibt eine Seins-Eigenart, die unabhängig von Raum und Zeit, von Subjekt und Objekt ist, denn identische Qualitäten können weder durch Raum und Zeit, noch durch Subjekt und Objekt getrennt sein. Durch Experimente der Quantenphysik mit den kleinsten Teilchen der Materie und mit Licht erhält diese bisher mehr der Geisteswissenschaft zugeordnete Anschauung eine unerwartete Aktualität.
Der gegenwärtige Mensch findet die Frage nach dem Zusammenhang von individueller Einmaligkeit und dem Eins-Sein mit dem Ganzen durch sein wissenschaftliches Forschen in den Gesetzen der Materie wieder.
So gingen Newton und Einstein noch von dem Gedanken aus, dass ein Elementarteilchen seine Individualität, seine Eigenexistenz immer bewahrt und somit sein Schicksal isoliert von jedem Kontext verfolgt werden kann. Die Experimente der Quantenphysik zeigen jedoch, dass ein Teilchen sowohl das Merkmal vollkommener Unterscheidbarkeit, als auch dasjenige vollkommener Gleichheit aufweist. So können einzelne Atome mit Hilfe eines Rastertunnelmikroskops einerseits als eine Art feste Kügelchen bewegt werden, während ihr Verhalten andererseits nur so erklärbar ist, dass sie ihre singuläre Teilchennatur aufgeben und sich – nicht mehr einzeln bestimmbar - wie Wellen verhalten. Die materielle Identität verliert in diesem Grenzbereich ihre Ausschließlichkeit, was dazu führt, dass sich die für unser Alltagsverständnis entscheidenden Begriffe wandeln.
In der Sprache der spirituellen Anschauung würde diese Beobachtung bedeuten, dass die individuelle Seele und das Göttliche eins und dennoch unterscheidbar sind Weiterhin können Wechselwirkungen aufgezeigt werden, welche Raum und Zeit "transzendieren". Wie die Versuche mit Photonen zeigen, findet anscheinend eine zeitlich unmittelbare Wechselwirkung zwischen zwei „verschränkten“ Lichtteilchen statt, obwohl diese nicht in räumlichem Kontakt miteinander stehen.
Dieses Phänomen weist auf eine Seinsebene hin, welche durch die Relativitätstheorie Einsteins nicht mehr beschrieben werden kann, und wird bereits zur Entwicklung neuer Kommunikationsgeräte angewandt. Seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts veränderten sich durch die Relativitätstheorie die Erkenntnisse über den Makrokosmos, durch die Quantentheorie diejenigen über den Mikrokosmos. Parallel zu dieser Ausweitung bis zu den Grenzen des dreidimensionalen Raumes werden durch die modernsten Kommunikationsmöglichkeiten nun sogar die Begrenzungen der vierdimensionalen Raumzeit überwunden.
In dieser äußeren Weltentwicklung haben wir das Abbild der inneren Erfahrung, in der die Seele sich ins Grenzenlose weitet, während die lineare Zeit immer „kürzer“ wird, bis das Wahrnehmen der „Gleichzeitigkeit“ aller Ereignisse erfahren und damit die Gesetzmäßigkeit der geistigen Welt eingesehen werden kann .
Jede neue Entdeckung des Menschen führt einerseits zu einer erweiterten Machtfülle über die feste Materie und andererseits zu einer größeren Verantwortung gegenüber der Schöpfung. Dieser Vorgang erfährt im Laufe der Kulturentwicklung eine stetige Zuspitzung, um schließlich durch die Entdeckungen der gegenwärtigen Wissenschaft den Menschen zu befähigen, in die materiellen Bausteine, die Grundlage des sich offenbarenden Lebens, verändernd einzugreifen.
Hinter dem Streben nach Macht und der Annahme der Verantwortung stehen jedoch zwei entgegengesetzte seelische Qualitäten. Machtstreben entspringt der inneren Unfreiheit, dem persönlich-egoistischen Streben nach der Verwirklichung eines ungeläuterten Seelenlebens. Verantwortung dagegen ist Ausdruck innerer Freiheit, und geht aus einer nach Harmonisierung strebenden Haltung hervor.
Der Weg zur Entfaltung dieser Freiheit ist in Bezug auf die Kulturentwicklung kein geradliniger; er ergibt sich aus der stetigen Korrektur der begangenen Irrtümer. Der Anlass dieser „Umwege“ lässt sich in spiritueller Tradition als das Wirken geistiger Wesenheiten beschreiben. Von diesem wird in der Fortsetzung dieses Beitrages die Rede sein.

1 F.A.Z. vom 31. Mai 2002



Der Kampf um die menschliche Mitte III Artikel von Zoran Perowanowitsch Buchvorstellung


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