Zum Verständnis des „Antichrist“ I

Die Ein- und Ausatmung des Weltenwortes



Die gegenseitige Bedrohung des westlichen und östlichen politischen Systems hatte in den achtziger Jahren eine solches Ausmaß angenommen, dass sich bereitseine Stimmung der Resignation auszubreiten begann und von einer nicht zu verhindernden atomaren Konfrontation ausgegangen wurde.
Der Kernreaktorunfall von Tschernobyl im Jahr 1986 leitete nach den Worten des ehemaligen sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow einen neuen Dialog zwischen Ost und West ein. Es gebe eine Zeit vor und eine nach Tschernobyl stellt Gorbatschow fest, denn durch dieses Ereignis sei es ihm bewusst geworden, dass es nicht wie bisher mit der gegenseitigen Polarisierung und der nuklearen Bedrohung zwischen Ost und West weitergehen könne, und so seien die Abrüstungsverhandlungen verstärkt vorangetrieben worden. Dieser Bewusstseinswandel erreichte einen vorläufigen Höhepunkt im Jahr 1989, in dem die Menschen der östlichen Staaten von der Idee der Freiheit und des Friedens ergriffen wurden, so dass sie die politischen Strukturen überwinden konnten. Michail Gorbatschow gab dann der Idee „Europa“ neues Leben, denn seine Vision vom „gemeinsamen Haus Europa“, in dem Ost und West vereinigt sind, ist die Grundlage für die neue, werdende Kultur.

Der südslawische Staat auf dem Balkan, Jugoslawien, der aus einzelnen Republiken bestehend unter Titos Herrschaft vereinigt worden war, bewahrte sich nach dem Zweiten Weltkrieg, im Gegensatz zu den anderen slawischen Völkern, "Der Antichrist" von Luca Signorelliseine Eigenständigkeit gegenüber der Sowjetunion. Jugoslawien wurde jedoch nicht in gleicher Weise von dem freiheitlichen Strom, der die Staaten des „Warschauer Paktes“ nach 1989 erfasst hatte, berührt. Es begann statt dessen bald nach dem Tode Titos unter zunehmend schweren Auseinandersetzungen der einzelnen Republiken mit den führenden Serben in einzelne Staaten zu zerfallen, die sich von 1991 an nach dem Westen hin orientierten. Die Serben bildeten mit Montenegro den Reststaat „Bundesrepublik Jugoslawien“ und bewahrten die alte politische Ordnung. Doch die Isolation und der damit verbundene Nationalismus konnten sich in der gegenwärtigen Zeit, in der allgemeine Menschheitsideale zu verwirklichen gesucht werden, nicht bewahren und führten schließlich im letzten Jahr des 20. Jahrhunderts erneut zu einer Konfrontation zwischen dem Westen und Osten. Die Krise auf dem Balkan brachte jedoch in den maßgeblichen politischen Kreisen die Erkenntnis, dass bei der Suche nach einem dauerhaften Frieden und einer Grundlage der weiteren Kulturentwicklung in Europa diese auf eine neue Ost-West-Kultur unter Einbeziehung Russlands zu begründen sei. So beginnt sich Europa in einem Jahr auf sich selbst zu besinnen und auch Selbständigkeit gegenüber dem amerikanischen Einfluss zu entfalten, in dem man sich in der jetzigen europäischen Kulturhauptstadt Weimar dem Geiste Goethes zuwendet.

Rudolf Steiner weist uns auf ein spirituelles Gesetz hin, demgemäß von jedem Punkt der Entwicklung aus eine Art Spiegelung sowohl nach vorwärts als auch nach rückwärts zu beobachten sei. Wenn wir uns aus dieser Anschauung heraus dem Jahr 1899 zuwenden, in dem nach Rudolf Steiner das Kali Yuga, das finstere Zeitalter zu Ende ging und dem geistigen Gesetz folgend hundert Jahre zurück auf das Jahr 1799 schauen, dann erkennen wir in dieser Zeit bedeutende geistige Impulse für die Idee Europa. 1799 war das Jahr, in dem Schiller nach Weimar zog, um mit Goethe durch ihre gemeinsame Arbeit und Freundschaft ein Kulturzentrum zu bilden. Novalis schrieb im gleichen Zeitraum die „Geistlichen Lieder“, die „Hymnen an die Nacht“ und den Aufsatz „Die Christenheit oder Europa“, in dem er seine Vision von Europa, welches nur in einer Durchchristung sein Ideal finden kann, darstellt. Viele bedeutende Persönlichkeiten entwickelten zu dieser Zeit allgemeine Menschheitsideale.
Wenn wir diesen Zeitraum über das Jahr 1899 spiegeln, kommen wir zum Jahr 1999, in dem wir wahrnehmen können, wie sich die Keime, die um 1800 gelegt wurden, im heutigen Bewusstsein zu entfalten suchen.
Um jedoch diesen Keimen den Boden zu bereiten, müssen die fördernden und hemmenden Kräfte ins Bewusstsein gehoben werden. Denn die Versuchungen, die mit dem Gang der freiheitlichen Entwicklung einhergehen und trotz des gesteigerten Bewusstseins des Menschen nicht geringer, sondern immer größer werden, dürfen nicht verkannt werden. Es kann sich jetzt nicht um eine endgültige Überwindung der Gegensätze auf Erden handeln, wie sie sich in der beginnenden Überwindung des Ost-West-Gegensatzes offenbart, sondern vielmehr um eine Übergangsphase, in der sich sogar eine neue verstärkt eingeleitete Polarisierung vorbereitet. Um diese Zusammenhänge, die im Geschichtsverlauf ihre Vorbereitung finden, in die Anschauung zu bringen, wollen wir uns zwei wesentlichen Bewusstseinsströmungen in der gegenwärtigen Kultur zuwenden, die im Werden begriffen sind und immer mehr für die zukünftige Kulturentwicklung von Bedeutung sein werden.
So wird auf der einen Seite die Grenze des intellektuellen Denkens wahrgenommen, mit dem sowohl die tieferen Fragen nach dem Ursprung und Sinn des Lebens nicht beantwortet werden können, als auch das Lebendige in der gewordenen Welt nicht unmittelbar erfahren werden kann. In der Seelenhaltung, die zur objektiven Wahrnehmung des Intellektes und seiner Begrenzungen führt, liegt jedoch bereits der Keim der Umwandlung zu einem imaginativen Schauen, wodurch ein sich öffnen für die moralischen Impulse der geistigen Welt ermöglicht wird. Dadurch können sowohl die Erde als auch die sozialen Verhältnisse der Menschen in eine höhere Ordnung des Lebens umgewandelt werden.
Andererseits wird, da die Grenzen des intellektuellen Denkens nicht erkannt werden, auch das Leben als eine Seins-Qualität nicht wahrgenommen, sondern der Intellekt wird weiter konzentriert, um auf der physischen Ebene das Denkbare, unabhängig von moralischen Werten, zu realisieren. In der sich in der bisherigen Geschichte ohne Beispiel schnell entwickelnden Technik wird die Möglichkeit gesehen, den Wunsch nach einem Leben jenseits von Leid und Tod zu erfüllen, welches nicht nach dem Tod in einer unbestimmten geistigen Sphäre, sondern auf der physischen Ebene gesucht wird. Der für diese Zwecke noch unvollkommene Körper soll mit der wachsenden Fähigkeit, in den Bauplan des Lebendigen einzugreifen, verändert werden, um in einer Art Symbiose mit der technischen Welt eine Grundlage dafür zu bilden. Diese Form der Intelligenz strebt danach, das Äußere nach seinem Bilde zu formen, sich mit einer mechanischen Welt zu umgeben und nicht das Lebendige, sondern das Tote zu ergreifen. Es liegt die Gefahr darin, dass der Mensch, anstatt aus Erkenntnis der inneren Freiheit die Vorstellungswelt zu überwinden und dadurch sein soziales Leben auf eine moralische Grundlage zu stellen, sich in diese noch verstärkt zu verlieren droht.

Die Ängste, die durch die wissenschaftlichen Entdeckungen, besonders durch die Genbiologie und Elektronik ausgelöst werden, beinhalten ein noch unbewusstes Wissen von den darin liegenden Möglichkeiten. So wird jede Erklärung, die diesen entgegenzuwirken versucht, indem sie die neugewonnenen Erkenntnisse auf rein mechanische Funktionsweise reduziert, dieser ahnenden Ungewissheit nicht gerecht. Denn man geht vom momentanen Stand der Entwicklung aus und erkennt nicht den dahinter wirkenden „Willen“, der sich als potentielle Kraft in weiteren Offenbarungen des Denkbaren, jenseits der Moralität, zu realisieren sucht.
Um diesen „Willen“ in die Anschauung zu bringen ist es notwendig, den Grundrhythmus des Lebens, den der Ein- und Ausatmung und das sich darin in der Menschheitsentwicklung wandelnde Verhältnis von Ich-Bewusstsein zum physischen Leib zu untersuchen. Daraus können dann die der Entwicklung dienenden Kräfte und deren Gegenkräfte in ihrer Wirksamkeit erkannt werden.

Das Urwort ICH
In der frühen Zeit, so ist es uns in den alten Schriften überliefert, in der der Mensch nicht nur die leblosen Formen um sich wahrnahm, sondern in der Erde, den Flüssen, Winden und dem Feuer geistige Wesenheiten in ihrer Wirksamkeit erkannte, war das Ich-Bewusstsein, wie wir es heute kennen, noch sehr zart ausgebildet. Damals wurden die Menschen, die mit der Umwelt in rhythmischer Wechselwirkung lebten, von einzelnen Individualitäten durch deren in geistiger Schauung erfahrenes Wissen geführt. Wenn diese ihre Seelen zu den wirkenden Kräften im Kosmos erhoben, so sprachen sie von dem Urwort ICH, das der Welt seit Uranfängen als schöpferische Kraft zugrunde liegt. Und wie der Atem den Menschen belebt, ihm Bewusstsein gibt, so sahen sie das Sein geworden durch den Atem Gottes, durch das Urwort ICH.

Der gegenwärtige Mensch atmet ein und aus, ohne damit ein Erleben zu verbinden; zu jener Zeit jedoch lauschten die Menschen in die Bewegung des rhythmischen Atems hinein und erkannten in dem Ein- und Ausströmen des Atems die bildende Kraft des Urwortes ICH, das in jedem Atemzug das Innigste des menschlichen Wesens berührte und stärkte. Je mehr sie der Kraft, die den Menschen mit Bewusstsein erfüllt, nachlauschten, erkannten sie eine geistige Wesenheit darin, die als „Leben“ empfunden wurde und die der physischen Welt als Liebe zugrunde liegt. So besteht zwischen den Wörtern Leben und Liebe ein enger Zusammenhang. Ebenso finden wir in dem Wort Leib, das sich aus dem Wort Leben entwickelt hat, den form -und lebensgebenden Anteil desjenigen Leibes, der auch als der „ätherische“ bezeichnet wird, ausgedrückt; in dem Wort Körper, das aus dem lateinischen Corpus hervorging, kommt im Gegensatz dazu die mehr materielle Form des Menschen zum Ausdruck. Diesen „Lebensleib“ schauten die Menschen in früher Zeit, in der das Vorstellungsleben noch nicht über die unmittelbare Erfahrung dominierte, gewoben aus Licht und Liebe, und er war ihnen der unmittelbare Ausdruck jener Wesenheit, die sie schauten, wenn sie Ihren Blick zur Sonne erhoben und von der sie sagten, dass deren geheimer Name ICH lautet.
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Das Wesen des ICH wurde nicht im Innern des Menschen erlebt, sondern in den kosmischen Weiten. Dem äußeren und inneren Naturgeschehen gegenüber war der Mensch dadurch passiv hingegeben. Innen und Außen wurde nicht, wie wir es heute kennen, als Polaritäten erlebt, sondern durchströmt und gebildet von dem einen Leben, das sich in der Vielfalt offenbart. So war dem Menschen das Zeiterleben eine sich ständig aus dem Augenblick erneuernde und im Fluss befindliche Gegenwart. In diesem fließenden unmittelbaren Erleben in dem sich die Gegenwart wie ständig und in jedem Augenblick wie aus einer „Leere“ heraus neu gebiert, offenbarte sich die ganze Wesenheit des Menschen, und man konnte noch nicht von einem bewussten und einem unbewussten Seelenzustand sprechen. Die Seele war offen und das Erlebte war das Wissen.
Wie man in der Einatmung die Ich-Werdung und in der Ausatmung das Ausströmen der Seele erfuhr, so erkannte man in dem Zwischenraum beider Bewegungen, in der „Leere“ oder dem „Nichts“ die Quelle des zu Werdenden, welche sich in der Atembewegung offenbart. Im Werden und Vergehen, in der Evolution und der Involution, der Schöpfung der Welt aus dem „Nichts“, wie sie uns im Alten Testament überliefert ist, erkannten sie die kosmische Entsprechung zu diesem inneren Erleben. Daraus formte sich die Schau, wie einst dieses kosmische ICH-Wesen, das noch in der Sonne erlebt wurde, in der weitesten Ausatmung des Göttlichen, im Übergang von der Aus- zur Einatmung auf der Erde als Gottesbewusstsein erwachen und eine Opfertat vollbringen wird, indem es sich bis in die Elemente hinein mit der Erde verbinden, die Erde als seinen Leib annehmen und in den Herzen der Menschen zu einem neuen ICH-Bewußtsein erwachen wird.
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Da die menschliche Seele und der physischer Leib jedoch noch nicht die notwendige Voraussetzung dazu entwickelt hatten, das kosmische ICH unmittelbar aufzunehmen, bildete sich wie ein Abbild davon das Erden-Ich-Bewusstsein im Haupt aus. Parallel und wie eine notwendige Polarität zu den neuerworbenen Bewusstseinskräften entstand ein unbewusster Teil der Menschenseele, aus deren Verhältnis zueinander sich die Persönlichkeit des Menschen formte. Dies führte dazu, dass die übersinnlichen Fähigkeiten schwächer wurden, und so können wir in diesem Zusammenhang in der Kulturentwicklung den Beginn des Geschichtsbewusstseins feststellen.
Hatten die Menschen zuvor ein bildhaft-räumliches Wahrnehmen der Zeit, verwandelt sich dieses nun in einen linearen Strom. So finden wir um das Jahr 3000 v. Chr. die ersten ägyptischen Überlieferungen von geschichtlichen Ereignissen und Namen der einzelnen Könige. Nach den indischen Schriften beginnt in diesem Zeitraum das finstere Zeitalter, das „Kali Yuga“, in dem sich die heilige Bedeutung des Urwortes immer mehr verlor. Die indischen Schriften berichten von der Entscheidung der Götter, dass ab nun Manas, dem Verstand, gegenüber dem Wort, der Vorrang gebühre, weil dieses in der Rede nur ausdrücke, was zuvor vom Verstand gedacht wurde. -Das gesprochene Wort ist inzwischen zur Alltagssprache herabgesunken und hat dadurch seine schöpferische Bedeutung verloren.
Aus diesen Überlieferungen heraus können wir einen bedeutenden Wandel in der Bewusstseinsentwicklung erkennen. Der Mensch stand zuvor in einem vertikalen Verhältnis zu den Himmels- und Erdenkräften. Das Haupt war wie nach oben für die Impulse aus der geistigen Welt geöffnet, die er wie träumend aufnahm und welche bis ins Physische hinein bildsam auf ihn wirkten. Die innere Entsprechung zu dem Weltenwort, dem kosmischen ICH, das er in der Sonne schaute, nahm er in seinem Herzen wahr. Mit dem Erwachen des Erden-Ich-Bewusstseins begann sich auch das „Himmelstor“ zu schließen, womit das vertikale Verhältnis in ein horizontales überzugehen begann, indem die Polarität von Oben und Unten, Himmel und Erde, Licht und Finsternis und Gut und Böse in eine von Ich und Du, Männlich und Weiblich, West und Ost und Innen und Außen umgewandelt wurde. Wir erkennen den beginnenden Übergang von der Fähigkeit, die Welt aus der eigenen Wesenheit heraus imaginativ zu erfahren, zu der sich nun beginnenden Entfaltung des intellektuellen Denkens, das wie ein keimhaftes Abbild des Welten-ICH nun jedoch nicht mehr im Herzen, sondern im Haupt konzentriert erlebt wird.
Mit dem sich entwickelnden Ich-Bewusstsein wuchs auch die Empfindung der Freiheit, so dass der Mensch, der die geistige Welt nicht in gewohnter übersinnlicher Schau wahrnehmen konnte, sich von den Göttern verlassen zu fühlen begann. So berichtet das Alte Testament von einer Zeit, in der die Götter nicht einmal mehr durch die Propheten zu den Menschen sprachen. Gleichzeitig lebte jedoch auch das Wissen und die Erwartung, dass in der größten Gottesferne und Verlassenheit der Menschenseele das Gottesbewusstsein in den Herzen der Menschen zu einem neuen ICH-Bewußtsein erwachen wird. Diese Zusammenhänge finden sich im Christentum in der Menschwerdung des Weltenwortes im Sohne Christus wieder.

So lesen wir im Prolog des Johannes-Evangeliums:

Im Urbeginn war das Wort,
und das Wort war bei Gott,
und ein göttliches Wesen war das Wort.
Dieses war im Urbeginne bei Gott.
Durch es sind alle Dinge geworden,
und nichts von allem Entstandenen ist anders als durch
das Wort geworden,
und das Leben war das Licht der Menschen Ȃ
Und das Wort ist Fleisch geworden
und hat unter uns gewohnt.

Aus den kosmischen Raumesweiten ist der Christus, das Welten-ICH, auf Erden Mensch geworden und hat die Todeskräfte in der Auferstehung überwunden. Darin haben wir eine Bewegung, die in dem Sterben und Werden des Christus dem Gesetz des Kosmos, dem der Ein- und Ausatmung folgt. In seiner göttlichen Inkarnation, die den Wendepunkt von der Ein- zur Ausatmung einleitet, haben wir die beginnende Aussöhnung von Kosmos und Erde, die Rückführung der Schöpfung zu ihrem göttlichen Ursprung.
In den „Geistlichen Liedern“ von Novalis finden wir diesen Vorgang mit den Worten beschrieben:

Laß, Vater, den Geliebten gehn,
Mit uns wirst du ihn wieder sehn.

Der „Heilige Gral“
Im Johannes-Evangelium lesen wir, dass Christus als das Wesen des Lichtes unter den Menschen weilte, sie ihn jedoch nicht erkennen konnten. Das äußere Schicksal setzt sich auch bei beginnender Umkehrung der inneren Haltung zunächst fort, so dass es notwendig war, das Christuslicht darüber hinaus zu bewahren.
So wurde in den Mysterien das Wissen um diese Zusammenhänge für die Menschheit gehütet, welches in der Imagination die Form eines Kelches annahm, der durch die Zeit in der Einatmungsbewegung des Erdorganismus von einer Mysterienstätte zur anderen herabgereicht wurde, um dann durch die „Drei Heiligen Könige“ dem Jesuskind als Gabe überreicht zu werden. Die Sage erzählt, dass Joseph von Arimatha den Kelch an sich nahm, der sich, als er den „Herrn der Welt“ vom Kreuze abnahm und das Blut Christi darin auffing, in reines Gold umwandelte und so zum „Heiligen Gral“ wurde.



Die „Drei Könige“ waren Vertreter eines Weisheitsstromes, in dem die Inkarnation des Sonnenwesens aus den Raumesweiten seit Urzeiten erwartet wurde, welche in der Geburt des Kindes seine Erfüllung finden sollte. Joseph von Arimatha wird in der Nachfolge der drei Könige zum „Vierten König“ und der Gral zum Symbol der individuellen Beziehung eines jeden einzelnen zum auferstandenen Christus. Denn über die Gesetzmäßigkeiten der inneren Seelenentwicklung und deren Entsprechung zur äußeren Kultur wusste man, dass jede Seelenfähigkeit, wenn sie über ihre Zeit hinaus gehalten wird, in das Gegenteil umschlägt und somit eine wie gespiegelte Welt zu der ursprünglich angestrebten zu erzeugen vermag, die anstatt aus der inneren Entfaltung der Freiheit zum Göttlichen hin, zur Freiheit vom Göttlichen wird.
Um dieser Tendenz zu begegnen, wurden im Symbol des „Heiligen Grals“ diejenigen Kräfte des Geistes bewahrt, die die Brücke zum Wiedererlangen der Gemeinschaft mit dem kosmischen Christus bilden, wenn sich die Kulturverhältnisse auf der Welt so verändert haben werden, dass die äußere Form den Menschen keinen Halt und keine Richtung mehr zu geben vermag, und somit den Herausforderungen nur begegnet werden kann, wenn jeder Mensch eine individuelle Beziehung zu dem lebendigen Christus im Erdenumraum findet.

Der „Antichrist“
Seit der Menschwerdung des Urwortes ICH, des Christus, haben wir eine beginnende Ausatmungsbewegung des Erdorganismus und ein damit verbundenes sich wieder Lösen des ICH vom physischen Leib. Die dadurch beginnende Aufhebung der Erdenschwere leitet die Verlebendigung der Schöpfung durch die harmonisierende Kraft des Christus ein, wodurch auch die Erde in dankbarer Hinwendung in den Erlösungsprozess mit einbezogen wird.
So können wir seit der Geburt Christi eine zweifache Spiegelung innerhalb der geistigen Zusammenhänge erkennen. Einerseits haben wir eine durch das belebende Licht Christi getragene Bewegung der Erlösung, in der die imaginativen Fähigkeiten der frühen Menschen und die damit verbundene Schau der „Lebenssphäre“ nun mit dem erwachten Ich-Bewusstsein in Freiheit neu erworben werden kann; denn der Christus kann nur durch die imaginativen Seelenfähigkeiten und nicht durch den Intellekt in seinem Wirken geschaut werden.
Auf der anderen Seite sehen wir einen entgegengesetzt wirkenden „Willen“, den kosmischen Christus nicht zu erkennen, sich von der Erde als einem lebendigen Organismus zu lösen und eine scheinbar von der geistigen Ebene unabhängige Welt zu begründen, die wie ein gespiegeltes „Gegenbild“ der erlösenden Ausatmungsbewegung ist. Diesen sich darin ausdrückenden „Willen“ bezeichnen wir aus der christlichen Überlieferung heraus als den „Antichrist“.
So haben wir seit dem Tod und der Auferstehung des Christus zwei wesentliche Strömungen festzustellen: die des „Heiligen Grals“ und die des „Antichrist“, die durch die Kulturgeschichte hindurch bis in die Gegenwart hinein ihre Wirksamkeit entfalten und den Weg der Erdenentwicklung bestimmen.

Diese der Entwicklung dienenden und ihr entgegenwirkenden Einflüsse sich bewusst zu werden ist eine Herausforderung der heutigen Zeit, in der der Mensch in der Ausatmungsbewegung des Erdorganismus und in dem sich Lösen des ICH vom physischen Leib sich wieder der geistigen Welt zu öffnen beginnt und dadurch den unterschiedlichen Einflüssen ausgesetzt ist.

1 Walter Ruben, Beginn der Philosophie in Indien, Berlin 1955, S. 158 f.
2 Rigveda X, 81/82.


Zum Verständnis des Antichrist II Artikel von Zoran Perowanowitsch Buchvorstellung