Inhalt


Einleitung

Anreise


I. Aragonischer Jakobsweg

Erste Schritte

Der Heilige Gral

Die Señoras

Paco

Das verlassene Dorf

Abschied

Kanadische Freunde

II. Camino Francés

Das Vipernnest

Pilgerfreunde

Rätsel

Fragen an das Leben

Schicksale

Merkwürdige Geschichte

Das innere Bild

Burgos

III. Der Himmel über der Meseta

Bewusstsein

Zu schön, um falsch zu sein

Das Nichts

Wiederentdeckung des Heidentums

Sich neu Kennenlernen

Der Kreuzritter

Der Eremit

Cruz de Ferro

Das Wiedersehen

Unter goldenen Kiefern

IV. Galicien

O Cebreiro

Geburtstag

Vor Santiago de Compostela

V. Das Meer

Loslassen

Buspilger

Kap Finisterre

Ende und Anfang

Ausklang: Hiddensee

Einleitung



Vor drei Monaten bin ich zurückgekehrt vom Jakobsweg. Nach über tausend Kilometern zu Fuß habe ich Mühe anzukommen. Äußerlich umgeben vom Treiben des Alltags, wandere ich noch immer durch weite, fremde Landschaften. Mein Wanderstab steht als Zeuge unserer gemeinsamen Zeit in der Ecke. Vor unserer Reise war er nur ein stummes Stück Holz aus dem Wald.
Vor Jahren verbrachte ich während des Sommers einige Zeit in dem Ort Kloster auf Hiddensee im Gartenhäuschen von Herrn Lindner. Es waren warme Tage mit wolkenlosem Himmel. Herr Lindner lebte mit seiner Mutter in einem reetgedeckten Haus inmitten eines Gartens mit alten Obstbäumen. Es war kurz nach der Wende, als ich die abgeschiedene Insel besuchte. Nun will ich wieder dorthin. Ich hoffe, für das Erlebte auf meiner Wanderung dort die richtigen Worte zu finden.

Mein Anruf kommt überraschend. Der Sprachfluss stockt, das Gedächtnis spielt nicht mehr so mit. Herrn Lindner erinnert sich kaum noch an mich, vermietet auch nicht mehr. Er hat genug zum Leben, kann das Geld nicht mit ins Grab nehmen.
"Nichts ist mehr! Ich bin schon über Achtzig, laufe an Stöcken. Vom Friedhof bis zum Gerhart-Hauptmann-Haus haben sie den Sand gelassen, sonst ist alles gepflastert.“
Die Hauptstraße von Kloster, ein breiter Sandweg, gibt dem Ort seinen malerischen Charakter, machte ihn für mich so liebenswert.
"Das hat mir immer so gut gefallen mit…“
"Schön haben sie es gemacht, alles schön“, unterbricht mich Herr Lindner.
"Und die Bäckerei mit den feinen Brötchen? Gibt es die noch?“, rufe ich wehmütig in den Hörer hinein.
"Ja, ja, die DDR-Brötchen. Der Kohlenrauch weht noch über Kloster.“
"Herr Lindner, ich suche weiter, vielleicht finde ich noch was. Machen Sie es gut!“
"Oh je, gut machen“, höre ich die sich entfernende Stimme.

Wenige Tage später bin ich in Stralsund. Unverständliche Rufe, dann löst der Mann im Hafen die Taue. Der klare Himmel und die Möwen über dem Schiff verwandeln den Tag in einen sommerlichen Traum. Unermüdlich arbeitet das Schiff sich der Insel in der Ferne entgegen. Ich denke an meine Pilgerreise. Was bewegte mich dazu, Ende März auf den Pilgerweg zu gehen? Nach Spanien, in ein Land, das mir fremd war, dessen Sprache ich, außer „Burro“ für Esel und „Café con leche“ für Milchkaffee, nicht verstand?
Am Anfang des Pilgerwegs steht ein inneres Bild. Ich kann mich seiner Macht nicht entziehen. Ich weiß: Die in uns unbewusst aufsteigenden Bilder entspringen meist Vorstellungen oder Erinnerungen. Doch jenes Bild, das den Christus gekreuzigt inmitten der Erde zeigt, ist anders. Es bleibt nicht stumm. Es ergreift mich, spricht durch mein Wesen zu mir. Ich begreife plötzlich: Aus freiem Willen nimmt Er, Christus, das Kreuz aufs Neue an, um nicht nur die Menschen, sondern die gesamte Schöpfung zu erhöhen. Verwundert sehe, höre, fühle, verstehe ich, dass Christus uns für dieses große Werk mit offenen Armen einlädt, dass Er es ohne uns nicht zu vollbringen vermag. Mitwirkende sollen wir werden, Ihn dadurch vom Kreuz der Materie erlösen. Doch wie können wir das leisten, als Menschen? Das Bedürfnis, mich mit diesen Fragen zu beschäftigen, führt zu der Entscheidung, meine gewohnte Umgebung für einige Zeit zu verlassen.
Das Schiff erreicht Hiddensee, legt an in Neuendorf. Die Reisenden nach Kloster steigen um ins Wassertaxi. Die Haare wirbeln mir ums Gesicht im Wind; in der Ferne sehe ich die Lichter von Vitte. Die Sonne sinkt hinter dem flachen Inselstreifen; der Himmel über mir scheint zu brennen. Suchend streicht der Lichtkegel des Leuchtturms vom Dornbusch über Land und Bodden.
Ich wuchs auf in einem kommunistischen Land. Die Mutter feierte mit uns Kindern Weihnachten im Verborgenen. Noch heute sehe ich die mit bunten Zuckerbonbons geschmückte Tanne vor mir. Von Jesus erfuhr ich nicht viel, nur, dass er in meinem Herzen wohnen sollte, was mir wegen seiner Größe wunderlich vorkam. Mit den Jahren verwandelte sich das Staunen des Kindes in die Frage nach dem Verhältnis von Weisheit und Liebe.
Das Boot legt an in Kloster. Auf der Höhe der Kirche beginnt der Sandweg. Kindheitserinnerungen steigen in mir empor. Barfüßig laufe ich durch die Sommertage. Sanft legt die Nacht sich über den Ort.

Pferdehufe trommeln dumpf; der Tag regt sich. Die Insel hat mich gut aufgenommen. In einem Rutsch schüttet die Bäckersfrau warme Brötchen in die Kippe. Der dunkle Rauch trotzt der Zeit.
Unter weit über die Straße ragenden Bäumen folge ich dem Sandweg entlang der niedrigen Häuser. Im Gerhard-Hauptmann-Haus mustere ich nachdenklich die Kritzeleien der Nacht am Bett. Beim Museum am Strand vorbei geht es nach Vitte. Alles ist mir noch vertraut. Gern lasse ich mich entlang der Blauen Scheune zum Café Kanne führen. Voller Erinnerungen, lenke ich meine Schritte den Dünen entgegen. Die Freude, als das Meer mir das Ende meiner Pilgerschaft zeigte, steigt wieder in mir empor.
Die Sonne blendet, das Wasser glitzert silbrig. Über dem Strand liegt milchiges Licht. Während die Mutter geschützt im Strandkorb ein Buch liest, baut der Vater mit dem Sohn eine Burg. Immer wieder schaut sie milde lächelnd auf. In der Ferne ragt das Dach der Lietzenburg über die Baumkronen. Ich lasse Sand durch meine Finger rieseln, lenke den Blick auf meine Aufzeichnungen, meine Notizen.

Anreise


Ich wache früh auf. Erste Forsythien blühen einsam unter dem grauen Himmel. Meine Sachen stehen gerichtet in der Ecke: Rucksack, Hut, Wanderstab. Das werden die drei Dinge sein, die ich ab heute mein eigen nenne. Im Haus ist es noch still. Ein letzter gemeinsamer Spaziergang, eine letzte Umarmung.
Der Himmel, die Haltestelle. Alles scheint heute seine Farbe abgelegt zu haben. Ein mit bunten Tulpen beklebter Bus biegt ein. Aus Prag kommt er, Ziel Barcelona. Fremde Gesichter spähen müde zwischen den Tulpen hervor. Ein letzter Blick zurück zum vertrauten Ort.
Die Fahrt. Gleichmäßig nähert der Bus sich dem Süden. Ich sitze am Fenster, schaue in die untergehende Sonne. In den nächsten Wochen werde ich ihrem Lauf folgen von Ost nach West. Auf dem engen Sitz finde ich kaum Schlaf.

"Perpignan! Perpignan!“
Müllwagen leeren polternd die Tonnen. Es ist kühl, Regentropfen fallen, die Straßen sind leer. Die unruhige Nacht will nicht weichen. Eine Bäckerei öffnet, doch die Körbe sind noch ungefüllt.
Ein Café. Schon spüre ich die Klinke in der Hand. Über den Dächern wärmen erste Sonnenstrahlen mein Gesicht. Gestern lag ich noch in meinem Bett. Heute sitze ich am Fuße der Pyrenäen. Irgendwo dort in den Höhen wartet der Somport-Pass.
Mittags fahre ich mit dem Zug nach Carcassonne. Ich will ein paar Tage in der mittelalterlichen Stadt bleiben, um mehr vom Leben der geheimnisvollen Katharer zu erfahren. Eine Schwester empfängt mich freundlich, drückt mir die ersten Stempel in meinen Pilgerausweis: einen für Carcassonne und einen für mein Nachtquartier, Notre Dame de l`Abbaye.
Türme und eine schwere Mauer schützen die Stadt. Sie scheint wie aus einem Märchenbuch gefallen. Die Katharer, „die Reinen“, waren zwischen dem 12. und 14. Jahrhundert in diesem Winkel Südfrankreichs stark verbreitet. Aus der Bezeichnung „Katharer“ wurde im Laufe der Zeit „Ketzer“ – für alle vom christlichen Glauben Abgefallenen. Sie selbst bezeichneten sich als veri christiani, als „wahre Christen“ oder als Bonshommes, als „gute Menschen“. Innerhalb Europas wurden schließlich Kreuzzüge ausgerufen, um sie zu vertreiben und zu vernichten. Es heißt, man habe am Ende einen gewaltigen Scheiterhaufen errichtet und sie alle hineingeworfen. In Wahrheit hatten die Unseren es nicht nötig, sie hineinzuwerfen, berichtet der Chronist, denn sie stürzten sich selbst ins Feuer, so sehr beharrten sie auf dem Bösen. Carcasonne war ein Zentrum der Bewegung. Einige Katharer retteten sich der Überlieferung nach vor der Inquisition über die Pyrenäen. Jahrhundertelang hielt sich der Glaube, die Überlebenden hätten ihren größten Schatz, den „Heiligen Gral“, mitgenommen und an einem geheimen Ort verborgen.

Am Morgen der Abreise steht mir auf dem Bahnsteig ein Mann mit mächtigem Rucksack und braungebrannten Gesicht gegenüber. Fragend zeigt er auf die Muschel an seinem Wanderstock. Ich nicke. Die Geste deutet an, dass er es geschafft hat. Er war in Santiago de Compostella, dem Ziel des Jakobswegs. Beim Einfahren des Zuges hängt er sich für mich ein blaues Schild um den Hals: Santiago.
Der Schaffner verlangt mein Ticket. Ich vergewissere mich, ob das wirklich der Zug nach „Pau“ ist. „Po“, korrigiert er streng. „Po?“, frage ich schmunzelnd. Er nickt zufrieden.
Höfe liegen wie Inseln im braunen Meer der umgepflügten Erde. Alles wartet auf die Sonne. Einen unbedeutenden Ort fern von Paris hatte ich erwartet. Doch im hellen Licht auf der Anhöhe erheben sich stolze Gebäude. In der leeren Kirche singt eine Frau mit weißem Hütchen das „Ave Maria“ vor einer Statue der Heiligen Bernadette. Draußen Palmen, stattliche weiße Hotels. Pau ist Pau.
Mühsam bezwingt der Zug die Steigung in Richtung Oloron Ste Marie. Schneebedeckte Berge wecken Sehnsucht, Hoffnung auf Erfüllung. Freudige Erregung erfasst mich. Heute werde ich auf dem Somport-Pass stehen und morgen den Pilgerweg beginnen. Von dem Bus, der mich dorthin bringen soll, jedoch keine Spur. So hebe ich nach über dreißig Jahren den Daumen. Sogleich bleibt ein Kleintransporter stehen.
Frederic ist Franzose, fährt über die Pyrenäen nach Jaca und erzählt, nicht sehr auf die schwierige Straße achtend, er wohne mit seiner deutschen Frau seit über zwanzig Jahren in Spanien, in der Nähe des Yase Stausees, in Mianos. Der Rio Aragón soll weiter gestaut werden, sodass der See dann nur noch einen Kilometer entfernt sein wird. Mit genüsslichem Gesicht sieht er sich in dem neu gekauften Boot, die Angel ausgeworfen, auf dem See treiben. So richtig gut gehen lassen werde er es sich. Wenn ich vorbeikomme, soll ich winken. Frederic entschuldigt sich für sein schlechtes Englisch, ärgert sich allerdings, dass alle Englisch lernen sollen, während die Engländer immer nur Englisch sprechen. Im gleichen Atemzug berichtet er stolz, die Mauren seien überall in Spanien gewesen, außer in Jaca. Meinem Einwand, es sei ihnen dort wahrscheinlich zu kalt gewesen, widerspricht er energisch.
Am Straßenrand taucht ein Schild auf: Pyrenäen Nationalpark. Frederic sieht meine besorgte Miene. Er kennt einen Mann, der jemanden kennt, der mit einem gesprochen hat, der einen Bären gesehen hat. Dabei grinst er herüber, ohne seinen riskanten Fahrstil zu ändern. Die Bauern klagen, dass im letzten Jahr zwanzig Schafe von dem Bären gerissen worden sind. Auf meine besorgte Nachfrage, ob in den Bergen noch Schnee liegt, winkt er ab: Über den Winter hätte es weder viel geschneit noch geregnet. Alles sei ausgetrocknet.
Meine Freude trübt sich, als er ankündigt, dass er durch den neuen Tunnel fährt und ich somit zum Pass laufen muss. An einer Kurve bleibt er stehen, schaut mich mitleidig an und gibt sich schließlich einen Ruck.
"Ah was, ich habe Zeit, bin doch in Rente.“
Oben ist es spürbar kälter. Schneefelder heben sich ab vom Grau der Felsen. Frederik holt meinen Rucksack und Wanderstab aus dem Laderaum und verabschiedet sich mit den besten Wünschen für den Weg. Beim Wenden kurbelt er die Scheibe herunter, um mich noch einmal daran zu erinnern, beim Vorbeigehen an Mianos zu winken.
Die Pilgerherberge liegt auf 1.640 Meter Höhe. Hier, auf dem Somport Pass, beginnt der Aragonische Jakobsweg, der bei Puente la Reina in den Camino Francés mündet und mich nach tausend Kilometern über Santiago de Compostela nach Finisterre, zum „Ende der Welt“ am Atlantischen Ozean, führen wird.
In der warmen Stube der Herberge laufen Lieder von Leonard Cohen. Außer mir und dem Hospitalero ist nur ein Mann um die sechzig anwesend. Er stellt sich als Jean vor.
ginnst du hier deinen Camino?“, will er wissen.
Jean kommt aus der Bretagne und ist schon verschiedene Jakobswege gegangen. Ich frage, welcher für ihn der schönste war. Er denkt nach und nennt schließlich den nördlichen Jakobsweg entlang der spanischen Küste. Allerdings würde er zuerst den Camino Francés gehen. Als ich nachfrage, warum, wiegt er den Kopf und schaut mich prüfend an.
"Weil er der spirituellste ist. Auf diesem Weg beten und kochen die Pilger zusammen. So etwas gibt es nur hier.“

I. Aragonischer Jakobsweg



Erste Schritte


Es ist eine innere Unruhe, eine Unruhe des Herzens, die mich zu gehen treibt. Alle meine bisherigen Versuche, in der Fremde zur Ruhe zu kommen, sind gescheitert. Meine Ideale und mein Innenleben scheinen konträre Welten zu sein. Daran muss ich jetzt, am Anfang meines Pilgerweges, denken. Jean, der nur auf Durchreise ist, will mich ein Stück begleiten.
Klare Sicht auf schneebedeckte Gipfel weckt Freude auf den ersten Tag. Mein Ziel ist die Stadt Jaca. Jean wiederholt ständig ein französisches Wort. Durch den Griff nach einem imaginären Stock macht er mir beschämend klar, dass ich meinen Wanderstab liegengelassen habe.
Zusammen setzen wir die ersten Schritte auf dem Jakobsweg, überqueren Schneefelder, brechen durch die dünne Eisschicht. Auf kahlen Hängen folgen wir dem schmalen Pfad. Jean bleibt bei einer Ruine stehen und erklärt mir, dass es die Grundmauern des vor tausend Jahren erbauten Pilgerspitals de Santa Cristina sind. Neben dem Hospiz auf dem Großen Sankt Bernhard und einem in Jerusalem soll es zu den größten des Mittelalters gehört haben. Alte Schriften bezeichnen die Hospitäler als „Säulen von außergewöhnlicher Dienlichkeit“. Hier fanden die Pilger Schutz und Pflege bei Krankheit. Bald darauf taucht Candanchú, eines der ältesten Wintersportgebiete Spaniens, vor uns auf. Schweigend gehen wir zwischen den aufragenden, leerstehenden Häusern hindurch.
Unerwartet bleibt Jean stehen, zeigt mir den Weg und verabschiedet sich. Was auch immer ihn bewegt haben mag, mich zu begleiten: Bei mir hinterlässt er den Eindruck eines väterlichen Freundes, der mich, einer alten Sitte gemäß, ein Stück weit aus dem heimatlichen Dorf geführt hat.
Nun bin ich allein. Ich folge dem Symbol der Muschel. Meine Schritte sind unrhythmisch, noch fehlt es mir an Erfahrung. Auch der Wanderstab will sich nicht fügen. Wie ein Fremdkörper liegt er in meiner Hand, während ich den Bergpfad hinab stolpere. Durchquere ich ein Wäldchen, wird es in mir still, gehe ich die Passstraße entlang, erfüllen mich wahllose Gedanken, aus allen Richtungen auf mich einstürmend. Der offenkundige Zusammenhang zwischen meinem Innenleben und der Umgebung überrascht mich, und eine Unruhe befällt mich, eine Ahnung von Untiefen, die mich fortreißen könnten.
Verspielt begleitet mich der Bergbach Aragón. Er zwängt sich zwischen den Steinen hindurch, fließt um den Hügel, so dass nur noch ein Murmeln zu hören ist, um dann an der nächsten Biegung wieder entgegenzukommen. Übermütig stürzt er sich herab und bildet zwischen den Felsen einladende Becken. Es ist Ende März, noch früh im Jahr.
Zwischen inneren und äußeren Eindrücken hin- und hergerissen, bleibe ich überrascht stehen. Mindestens zweihundert Meter misst das Gebäude, das unerwartet vor mir in dem schmalen Tal auftaucht. Wäre es gelb, hielte ich es für ein Schloss. Wie kommt es an diesen abgelegenen Ort namens Canfranc, der nur aus wenigen Häusern besteht?
Ein Bildschirm erhellt die Bar spärlich. Außer der Bedienung nur ein Pärchen. Ich lege den Rucksack ab, setzte mich an den Tisch in der Ecke und bestelle meinen ersten Café con leche mit einem belegten Baguette, dem Bocadillo. Über die Leinwand flimmern blonde Sänger. Die Situation befremdet mich. Warum sitze ich hier an einem unbekannten Ort bei einer Tasse Milchkaffee und höre Schnulzen? Gründe, den Jakobsweg in Aragonien zu beginnen, waren für mich neben seiner landschaftlichen Schönheit die Einsamkeit. Wenige Tage bevor ich aufgebrochen war, hatte ich gelesen, dass gerade dieser Weg eng mit der Geschichte des Heiligen Gral verbunden sei. Nicht weit von hier, etwas abseits des Jakobsweges, soll sich in der Bergeinsamkeit das Kloster San Juan de la Pena befinden, in dem angeblich der „Heilige Gral“ gehütet wurde. Ferner soll sich dort eine der ältesten Rosenkreuzdarstellung befinden. Gerade diese beiden Symbole sind es, die mich auf der Suche nach der Quelle des Christentums beschäftigen.
Die Pause hat mir gut getan. Fast ist es mir, als könnte ich meinen eigenen Wanderstab überholen. Links von mir das übergroße Gebäude, das, wie ich erfuhr, ein Bahnhof gewesen war. Der Drang des jungen Aragón wird am Ende des Ortes aufgehalten von einer mächtigen Wand. So ähnlich hatte ich mir als Kind mein „Finisterre“, das „Ende der Welt“, vorgestellt, jedoch mit einem Tor darin. Jahre später taucht das gleiche Motiv in einem Traum auf. Doch dieses Mal steht das Tor offen. Die Zyklopenwand im Rücken gehe ich, wie der sich tief unter mir zwischen den Felsen zwängende Aragón, einer neuen Welt entgegen. Ich kann nicht sagen, dass ich mich als Pilger fühle.
Eine tief gebückte Frau kommt mir entgegen, hebt kurz ihr zerfurchtes Gesicht und setzt mit einem „Hola!“ ihren Weg fort.
Während der Bergpfad abwechslungsreich war, verläuft der Weg in der Ebene nun monoton neben einer Straße. Nach zwanzig Kilometern gehe ich nur noch vor mich hin, einzelnen Gedankenfetzen folgend.
"Der Feuerwerfer“, sagt der Alte, starr auf mich herunterblickend. Es ist die Gewissensprüfung, der ich bei der Verweigerung des Militärdienstes unterzogen werde. In einem Zimmer mit abgestandener Luft konfrontieren sie mich mit Situationen, die mich als zum Töten bereit entlarven sollen. Dann erheben sich unzählige übergroße Gesichter, stürmen auf mich ein und suchen mich durch Streitigkeiten um Belangloses zu erdrücken. Sanft schiebt sich ein Bild aus Kindertagen vor: Drei Freunde stehen in unserem Innenhof. Gott selbst, so glauben wir, lebt als Mensch unter uns. Mit großen Augen schaue ich die Freunde an, denn, da bin ich mir sicher, ich bin es nicht…
Ein brennender Schmerz im rechten Fuß reißt mich aus dem Bildermeer heraus; dann erklingt eine Trompete. Müden Schrittes habe ich Jaca erreicht, die Perle der Pyrenäen. Vor dem Wachhäuschen steht ein Soldat stramm. Während ich mit Gedanken um meine Bescheidenheit beschäftigt bin, verspottet mich aus der Seitengasse eine zwielichtige Gestalt mit: „Camino Ballerino!“
Nach dem Abstieg von den Pyrenäen wähnte ich mich in einem Tal, doch Jaca liegt noch immer auf über 800 Metern Höhe. Mein Reiseführer ermahnt mich, mir die Zitadelle vor der Stadt anzusehen; sie ist aus dem 16. Jahrhundert und steht unter Denkmalschutz. Nach dreißig Kilometern Fußweg erscheint sie mir jedoch wie alle alten Gemäuer, die ich in meinem Leben gesehen habe. Die Plätze der Altstadt sind reich besucht von Jung und Alt; ein frohes, abwartendes Treiben herrscht auf ihnen. Ein Mädchen spricht mich an. Mir ist nicht klar, was sie will. Ohne zu wissen woher, bin ich umringt von Teenagern. Sie wollen ein Foto mit mir machen: fünfzehn Mädchen mit einem echten Pilger in der Mitte! Eins für sie, eins für mich. Als erstes Lebenszeichen sende ich es nach Hause. Nach längerem Suchen und Fragen finde ich die Herberge. Die Frau ermahnt mich mitleidvoll schmunzelnd, um zehn im Bett zu sein.
Laternen werfen spärliches Licht auf Jaca. Jugendliche, noch Kinder eigentlich, tummeln sich ohne Ziel. Jeder von ihnen hält eine Zigarette in der Hand. Sie führen die Zigarette nicht langsam zum Mund und inhalieren genüsslich mit geschlossenen Augen, nein, schnell ist die Bewegung, kurz der Zug; dann hängt sie lässig im Mundwinkel.
Ich setze mich vor einer Bar in einer Seitengasse. Eine Gruppe Jugendlicher setzt sich an den Nebentisch. Wörter, Lachen, Husten, Spucken dringen herüber. Zwischen den Tischen bildet sich eine Lache. Aufstehen, unkontrollierte Bewegungen. Etwas ringt, bricht sich Bahn. Ich erinnere mich: Nur einer unter uns verhielt sich einst auffällig, überschritt eine Grenze. Der Tag, an dem er nach der Schule mit der Faust zuschlug, bedeutete das Ende der Kindheit.

Der Heilige Gral


Es ist noch früh für die Menschen in Jaca. Der gestern achtlos hingeworfene Müll wird zusammengefegt, die Gassen gewaschen. Die Stadt erwacht. Jaca liegt in der autonomen Region Aragonien, wo die legendäre Schale des Abendmahls, der Gral, an verschiedenen Orten gehütet wurde: einen Tagesmarsch östlich, in den Orosiahöhlen bei Yebra und nördlich, im Kloster bei Borau, von dem nur noch die Kapelle San Adrian de Sasabe steht. Die ersten Ausläufer der Pyrenäen, die Sierra de Gratal, tragen das Wort „Gral“ ebenso im Namen wie ihr höchster Berg, der Peña Gratal. Ich entscheide mich, mit dem Rio Aragón von Norden kommend dem Jakobsweg nach Westen zu folgen und das Kloster San Juan de la Pena zu besuchen, das abgelegen in einem Seitental liegt.
Von weitem lese ich an einem Gebäude in großen Lettern Hotel Aragon. Männer sitzen über Teller gebeugt, schlürfen Suppe. Ihre Augen blicken zu mir auf; der Mann hinter dem Tresen mustert mich, ohne seine Arbeit zu unterbrechen. Im Nebenraum dreht sich ein Spanferkel über angehäufter Glut. Ich setze mich. Rauch weht herüber, Worte dringen zu mir her. Ich verstehe nichts, sitze am Rand und doch mittendrin. Männer kommen und gehen; mir ist es, als wären es immer die gleichen. Ein Señor reißt die Tür auf, schaut kurz zu mir und fragt dann auf Spanisch (was ich merkwürdigerweise verstehe): „Ist der noch immer da, wie will er so nach Santiago kommen?“
Die Köpfe verharren über den Tellern, doch die Augen starren auf mich. Der Ankömmling hat Recht. Ich zahle meine Rechnung und gehe. Die Männer löffeln weiter.
Hinter dem Hotel dringt der Weg tief in ein Seitental. An seinem Ende, zu Füßen des Mons Salvatoris, auf 1.200 Metern Höhe, soll das Kloster San Juan de la Pena liegen. Ich weiß: Nach der Sage Wolfram von Eschenbachs wurde der Heilige Gral einst auf der Burg „Montsalvatsch“ verwahrt. „Mons Salvatoris“ soll in der okzitanischen Sprache Aragons einst als „Mont Salvatge“ ausgesprochen worden sein.
Kaum betrete ich das grüne Tal, erfüllt Stille den Ort. Mit einem Schrei durchbricht ein mächtiger Vogel das Schweigen und gleitet tief über den Wiesen zu einem Baum. Braungebrannte Männer mauern am Ortseingang von Santa Cruz de la Serós an der Einfassung eines Brunnens. Sie grüßen kurz und deuten auf die sich den Berg hinaufwindende Straße. Mühsam setze ich meine Schritte auf den heißen Asphalt, über dem die Luft flimmert wie ein vom Wind bewegtes Seidentuch. Adler kreisen über mir ohne Flügelschlag zwischen hoch aufragenden Felsen im Blau des Himmels.
Eine Unbekannte im Auto bleibt stehen, will mich mitnehmen. Das Mädchen neben ihr beugt sich vor, staunt über den seltsamen Wandersmann. Ich lehne dankend ab. Weiter vorn zweigt ein Schotterweg von der Straße ab, verliert sich nach Parkplatz und Wiese im Dickicht. Zweige schlagen mir ins Gesicht. Kurzatmig setze ich einen Fuß vor den anderen, klettere auf allen Vieren ein steiles Geröllfeld hinauf. Der Rucksack zieht mich nach hinten, meine Füße finden kaum noch Halt, meine Kräfte schwinden. Ich verharre, zwinge mich, weiterzugehen. Der Weg zum Gral, so berichtet die Sage, ist mühsam und beschwerlich. Mit letzter Kraft übersteige ich die Begrenzung zur Straße. Meine Wasserflasche ist leer.
Unerwartet, zwischen Himmel und Erde, erheben sich vor mir unter einem mächtigen Felsüberhang die Mauern von San Juan de la Pena des Heiligen Johannes vom Felsen. Eine Frau winkt mir, ihr zu folgen. Sie leert ihre Wasserflasche in meine. Mürrisch verweist ein junger Mann auf ein bewohntes Kloster weiter oben am Berg: Dort gäbe es Wasser. Plötzlich stutzt er, blickt mich an und fragt, ob ich ein Pilger sei. Es ist ihm sichtlich unangenehm, so mit mir gesprochen zu haben. Freundlich macht er mich darauf aufmerksam, dass ich mich beeilen müsse; das Kloster schließe bald.
Ich steige die Steinstufen hinab zu jenem Saal, in dem vor Jahrhunderten das heilige Konzil tagte. Schwer lastet das mehrbogige Gewölbe auf kräftigen Säulen. Ich nehme den Strohhut ab und gehe über unebenen Steinboden, Zeuge unzähliger Schritte. Ein Plätschern lockt mich in einen Nebenraum. Eine Quelle entspringt hier dem Berg. Ich stehe eine Weile da und folge mit dem Blick dem Rinnsal, das sich in ein Becken ergießt.
Oben öffnet sich der Kirchenraum; seine Decke wird vom Felsüberhang gebildet. Nur spärliches Licht fällt in den Raum. Auf dem Altar eine Schale aus Achat. Ich lasse mich auf einer Bank nieder. Die Gralssage berichtet, dass sich der Abendmahlskelch einst zum Heiligen Gral wandelte, nachdem Joseph von Arimathia darin das Blut Christi auffing. Nach der Auferstehung des Heilands beschuldigten die Juden ihn, den Leichnam gestohlen zu haben und sperrten ihn in einen Turm. In dunkler Einsamkeit erschien Christus dem Arimathia und weihte ihn ein in das Geheimnis des Grals. In den Jahren seiner Gefangenschaft ohne Speis und Trank wurde die heilige Schale ihm zum Lebensspender. Gewiss nicht nur zur Unterhaltung ist diese Geschichte gesungen und geschrieben worden, sondern als Ausdruck religiösen Erlebens, das sich in Bildern mitteilte. Das Original des Abendmahlskelchs, über Jahrhunderte hier verwahrt, befindet sich heute in einem Anbau der Kathedrale von Valencia, in der „Gralskapelle“. Dort wird es als Reliquie verehrt.
Die Sonne blendet, als ich den dunklen Raum verlasse. Ich gehe hinüber zum Kreuzgang und stehe vor dem Pantheon der Edlen. Hier reihen sich die Wandgräber der Könige von Aragon. In die halbkreisförmigen Steinplatten der Begräbnisnischen sind kunstvolle Reliefs geschnitten. Eines davon zeigt ein Kreuz mit fünfblättriger Blume im Zentrum. Die Fünf ist die Zahl der Rose. Ich weiß: Erst Anfang des 17. Jahrhunderts erfuhr die Öffentlichkeit durch anonyme Schriften von der Existenz einer jahrhundertealten geheimen christlichen Bruderschaft. Ihr Symbol war das Rosenkreuz. Das Relief vor mir jedoch ist älter. Gral und Rosenkreuz, zwei der wichtigsten Symbole des esoterischen Christentums, begegnen mir an diesem Ort. Über die Bruderschaft der Rosenkreuzer weiß die Überlieferung, dass sie das Wissen um den Gral, der Materie umzuwandeln vermag, hüten.
Die Sonne steht tief; es wird feucht und klamm. Seitlich am Berg errichte ich auf weichem Waldboden das Zelt. Mein Blick wandert über das Flusstal des Rio Aragón bis hin zu den fernen schneebedeckten Pyrenäen. Es dämmert; ein Stern nach dem anderen glüht auf am Firmament. Wie haben die Menschen in dieser Einsamkeit einst gelebt? Wie sahen ihre Augen diesen Himmel? Kein Wissen begrenzte damals ihre Sicht; das Göttliche war ihrer staunenden Seele noch nah.