Der Kampf um die menschliche Mitte III

Im Spannungsfeld der Polarität



In den alten Kulturen finden wir die Anschauung von zwei polaren Kräften, die aus einer übergeordneten Einheit hervorgehen und durch ihre Wechselwirkung die Grundlage jeder seelischen und materiellen Existenz bilden. Eine der bekanntesten Darstellung dieser Anschauung ist die des Yin und Yang der chinesischen Philosophie, welche aus dem Tao hervorgehen. Yin ist das weibliche, passive, empfangende, hingebende, weiche, dunkle Prinzip, Yang dagegen das männliche, aktive, zeugende, schöpferische, harte, helle. Yin-Symbole sind u. a. der Mond, Yang-Symbole sind u.a. die Sonne. Aus der Vermischung dieser beiden polaren Kräfte gehen die Elemente hervor, die wiederum die Grundlage für das Entstehen der „Zehntausend Dinge“, der Gesamtheit der Erscheinungsformen im Universum bilden.
Wenn wir uns unvoreingenommen dieser Anschauung zuwenden, können wir im luziferischen und ahrimanischen Wesen der anthroposophischen Geisteswissenschaft eine Entsprechung zu Yin und Yang erkennen. Diese beiden polaren Seelenkräfte können in der Seele jedoch nur in Bezug zu einer „Mitte“ erlebt werden.
Im Brustbereich nehmen wir die Vielfalt der verschiedenen unseren engen Umkreis bestimmenden Seelenregungen wahr. Doch allgemeine, über das Persönliche hinausgehende Qualitäten werden in konkreten Bezug zum Herzen gebracht. Damit ist nicht das mehr in der linken Brusthälfte liegende physische Organ gemeint, sondern ein konzentrierter Bereich in der Mitte, der als Quelle des Lichtes und des ICH-Bewusstseins wahrgenommen werden kann. Dieses „spirituelle Herz“ bildet den Schnittpunkt von Innen- und Außenwelt und ist dadurch Sitz und Ursprung der menschlichen Wesenheit. In diesem sind die polaren Seelenkräfte nicht verdrängt, überwunden oder vernichtet, sondern den Bereichen zugeordnet, in denen sie ihrer Fähigkeit entsprechend dienen können.
Die luziferischen und ahrimanischen Wesenheiten sind, solange sie in Beziehung zur dieser Mitte stehen, positive Seelenkräfte. Erst wenn sie ihren Grund leugnen und ein für sich selbst seiendes Dasein beanspruchen, beginnen sie den Menschen von sich selbst wegzuführen. Sie ziehen uns dann entweder in die eine oder andere Richtung, wodurch die eigentliche, umfassende und ausgleichende Mitte nur noch traumhaft Erlebt werden kann. Das Luziferische lässt uns an lichthaften Idealen teilhaben, jedoch mit der Versuchung, das Interesse für das physische Sein zu verlieren und in eine Seelenwelt zu flüchten, die uns schließlich sogar mehr als die physische Welt bindet und von dieser „abzieht“. Das Ahrimanische dagegen will nur das Physische gelten lassen und verleitet uns, die Ideale und Sehnsüchte der Seele, wie beispielsweise die Unsterblichkeit, im Physischen durch modernste Technologie realisieren zu wollen. Die Haupttendenzen der luziferischen und ahrimanischen Wesenheiten sind die der Auflösung beziehungsweise Verhärtung unseres Wesens; sie streben danach, die im Fluss befindliche und harmonisierende Qualität menschlichen Seins in einen einseitigen und endgültigen Zustand zu überführen
Wir können jedoch eine Verstärkung ihrer Wirksamkeit erfahren, wenn diese nicht nur einseitig entweder den Menschen nach „links“ oder „rechts“ von der Mitte wegführen, sondern gleichzeitig nach beiden Richtungen auf die Seele einwirken, so dass ein Spannungszustand hervorgerufen wird, der eine „Scheinmitte“ erzeugt.
Am Beispiel des folgenden Gedichtes, das zum besseren Verständnis in drei Sinneinheiten gegliedert wird, kann das Beschriebene verdeutlicht werden.

Ich gehe manchesmal in rauhen Nächten
Zur Wotanseiche in den stillen Hain,
Mit dunklen Mächten einen Bund zu flechten-
Die Runen zaubert mir der Mondenschein.

Und alle, die am Tage sich erfrechten,
Sie werden vor der Zauberformel klein!
Sie ziehen blank – doch statt den Strauß zu fechten,
Erstarren sie zu Stalagmitgestein.

So scheiden sich die Falschen von den Echten –
Ich greife in das Fibelnest hinein
Und gebe dann den Guten und Gerechten
Mit meiner Formel Segen und Gedeih'n.

Der erste Teil beschreibt das Erleben der Seele, während des Einschlafens in der Astralsphäre, wenn sie sich vom physischen Körper löst. Aus geisteswissenschaftlicher Anschauung heraus wirken in dieser Sphäre die luziferischen Wesen, welche in Verbindung zum Mond gesehen werden, in der Empfindungsseele des Menschen als dunkle Versuchermächte.
Im zweiten Teil werden die von der dunklen, luziferischen Macht fehlgeleiteten Ideale durch das ahrimanische Wesen im Ätherleib des Menschen als Gedanken einverwoben, die sich dann im Tagesbewusstsein der Verstandesseele als die Kräfte der Erstarrung offenbaren. Hier wirken das Luziferische und das Ahrimanische zusammen, um die Mitte des Menschen, sein Ich, zu umgehen und dadurch zu schwächen.
Im dritten Teil des Gedichtes können wir die Auswirkungen dieser sich verbindenden Wesenheiten erkennen. Durch die Umgehung des Ichs, die Bildung einer „Scheinmitte“, beginnen „negative Ich-Wesenheiten“ sich des Menschen zu bemächtigen, die nicht mehr nur die Seele verführen, sondern das Ich durchdringen und dadurch in die Welt nach eigenem, persönlichem Gutdünken hineinwirken. Die Anthroposophie bezeichnet diese Wesen als Asuras.
In diesem durch das gleichzeitige Einwirken von Luzifer und Ahriman erzeugten Spannungsfeld wirkt der Mensch einerseits vor den alltäglichen, den Menschen bestimmenden Umständen losgelöst, und andererseits an die daraus resultierenden verzerrten Seeleninhalte gefesselt. So wird der Mensch, da er durch den Verlust der korrigierenden Mitte, des freien Ichs, selbst gebunden ist, bereit, zu entfesseln und zu zerstören; Das zitierte Gedicht schrieb Adolf Hitler 1915 im Feld.
In der Zeit des Nationalsozialismus beschreibt der Schriftsteller und Zeitzeuge Franz Werfel die Auswirkungen dieses Seelenzustandes und der daraus hervorgehenden Ideologie auf die Menschen seiner Zeit mit den Worten: „Und nun brach er los, der Mords-Gesang, der nur aus zwei Tönen besteht: ›Sieg-Heil! Sieg-Heil!‹ Wie das ›ah‹ eines automatischen Esels von Bergesgröße! Wie das Kriegsgeheul der Steinzeit, mechanisiert im Weltalter der Industrie … Auf den Gesichtern dieser Männer lag eine grandiose Leere und Ichverlassenheit, die es wahrscheinlich im Laufe der Geschichte noch nicht gegeben hatte … Sie lebten so sauber, so exakt, so ohne Gedanken, so ohne Gewissen, wie Motore leben. Sie warteten nur darauf, angelassen oder abgestellt zu werden … Motorenmenschen.“
In dieser Beschreibung erkennen wir den negativen Raum der Mitte, der durch die luziferischen und ahrimanischen Wesenheiten vorbereitet wurde, um den Boden für eine gesteigerte Versuchung des Menschen durch die Asuras zu bilden. Die heutigen rechtsradikalen Straftäter geben als Handlungsmotiv Langeweile an, was von psychiatrischen Gerichtsmedizinern ebenfalls als Zustand der Ich-Leere bezeichnet wird.
Das Ergreifen des Ich in der Bewusstseinsseele durch die Asuras führt dann die weitere Kulturentwicklung in die Konfrontation von Gut und Böse. Diese verschärfte Polarisierung findet auch in den Anschauungen der gegenwärtigen Wissenschaften ihren Ausdruck. So werden zu den positiven Vorstellungen deren entgegengesetzte negative Qualitäten verstärkt hervorgehoben. Zur Sonne, die die kosmische Lichtquelle und die Voraussetzung des Lebens und des Ich-Bewußtseins darstellt, entwickelt sich die Idee des „Schwarzen Loches“, welches das Licht an sich bindet. Die Anschauung von Materie wird durch die der „Antimaterie“ ergänzt, die der Schwerkraft durch Antischwerkraft und die der Welt selbst durch eine mögliche Gegen- oder Antiwelt. In der Dreiheit von Luzifer, Ahriman und Asuras haben wir wiederum die Grundlage, die „Leiblichkeit“, für eine weitere Steigerung der Verführung, die in die kosmischen Zusammenhänge der Entwicklung des Menschen hineinzugreifen sucht.

Die entbundene Lebenskraft
Die sich entfaltende Individualität des Menschen und die daraus erwachsenden Fähigkeiten sind Ausdruck eines sich schrittweise Lösens aus der Gebundenheit an die materielle Welt. Analog zu diesem sich weitenden Bewusstsein sieht sich der Mensch mit neuen, seiner Entwicklung entsprechenden Herausforderungen konfrontiert. Am Beispiel der Entwicklung der Klon- und Gentechnologie soll diese Doppelseitigkeit aufgezeigt werden.
Die fortschreitende Individualisierung ist nur möglich durch ein sich Herauslösen aus den allgemeinen in der Natur wirkenden Lebenskräften, wodurch wir in frei zu gestaltende Mündigkeit entlassen werden. Mit der Entfaltung der Bewusstseinsseele geht auch eine Entfremdung gegenüber der Körperlichkeit und den damit verbundenen seelischen Vorgängen einher, womit auch die Abschwächung der Blutsbande und der Fortpflanzungsfähigkeit zusammenhängen. Die heute noch selbstverständliche unbewusste Bindung an die eigenen Nachkommen ist dadurch im Abnehmen begriffen und führt schließlich zu einer inneren Entfremdung und Ablehnung des Erbstromes und des Vorgangs des Gebärens. Aufgrund dieser seelischen Voraussetzungen vermag der Mensch überhaupt die Klon- und Gentechnologie zu denken und zu entwickeln.
Wenn eines Tages die embryonale Entwicklung außerhalb des Mutterleibes verlegt wird, so wird das der Beginn einer verstärkten äußeren Einflussnahme auf das werdende Kind sein. Der Physiker Stephen Hawking hält diese Entwicklung für unabwendbar: „Die Züchtung von Embryonen außerhalb des menschlichen Körpers wird größere und damit höhere Intelligenzleistungen ermöglichen… Ich habe nicht die Absicht, die gentechnische Veränderung des Menschen als eine erstrebenswerte Entwicklung zu preisen, sondern möchte nur feststellen, dass sie stattfinden wird, ob wir es wollen oder nicht“.
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In der Klontechnologie wird parallel zum Lebensstrom, welcher in seiner Evolution auf Entwicklung und in seinem Sein auf Werden und Vergehen beruht, ein neuer Körper aus einer gealterten, jedoch „wiederbelebten“ Zelle aufgebaut, wodurch der neue Keim auf Kräften des Vergangenen, des Absterbenden beruht. Dadurch wird die Fortpflanzung von der schöpferische Kraft der Sexualität, in der sich das Lebensprinzip durch die polare Begegnung von Weiblichem und Männlichem offenbart, abgekoppelt.
Wenn eine Zelle, ein geronnener Zustand einer gewesenen Raumzeitqualität, kopiert wird, dann werden Kräfte der Vergangenheit in den Evolutionsstrom hineingetragen. Dadurch wird parallel zur weiteren Entwicklung des Lebens, welches nach der christlich-esoterischen Anschauung seinen Ursprung im Gegensatz zum „Klon-Lamm“ in dem Christus, dem „Lamm Gottes“, dem Sterben und Auferstehen hat, der Keim einer neuen Strömung gelegt. Dieser Strom ist nicht mehr das unmittelbare Abbild des Göttlichen, sondern ein Abbild des Abbildes. Somit wird durch das Klonen nicht nur ein Körper „wiederholt“; die momentane Entwicklungsstufe der Menschheit, jene der Bewusstseinsseele also, soll verfestigt werden.
Die Gegenmächte wollen den persönlichen Egoismus stärken, der seine Aufgabe bis zur Entfaltung des Selbstbewusstseins in der Bewusstseinsseele erfüllt hat und sich nun in der bewussten Hingabe an allgemein menschliche Ziele verwandeln soll, um die Ströme des Herzens zu fesseln und so die weitere Entwicklung über die der Bewusstseinsseele hinaus zu verhindern. Dies hat jedoch zur Folge, dass der Mensch in der Anschauung sich widerstrebender polarer Kräfte verhaftet bleibt, während es auf der nächsten Entwicklungsstufe, der des Geistselbst, darauf ankommt, diese Polarität in ihrer Gegensätzlichkeit zu überwinden, da erst dadurch das Ich in seiner kosmischen Dimension als ein allgemein menschliches ICH aufleuchten kann.
Den Führer dieser entwicklungshemmenden Wesen bezeichnet Rudolf Steiner als den Sonnendämon Sorat, der die dämonischen Mächte gegen die Erdenevolution, den Christus, einsetzt. Sorat versucht nicht nur, wie die Asuras, das Selbstbewusstsein des Menschen zu ergreifen, um es dann durch dämonische Wesen zu besetzen, sondern die Quelle des ICH-Bewusstseins, das „Herz“ selbst, welches das Tor zu Christus bildet und durch das sich der Christus selbst in der Welt offenbart, in seine Macht zu bringen, um einen der Evolution entgegengesetzten Strom zu bilden.
In diesem Zusammenhang verweist Steiner auf das Jahr 1998, „…wo Sorat wiederum aus den Fluten der Evolution am stärksten sein Haupt erheben wird, wo er sein wird der Widersacher jenes Anblicks des Christus, den die dazu vorbereiteten Menschen schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben werden durch die Sichtbarwerdung des ätherischen Christus“.
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Im Jahre 1998 konnte man wahrnehmen, wie die Bekanntwerdung des „Klon-Lammes“ ein Jahr zuvor sich nun in seiner ganzen Konsequenz in das Kulturleben senkte und einen neuen Strom begründete, der sich immer schneller zu entfalten beginnt und die Zukunft der Menschen stärker und offensichtlicher zu bestimmen sucht.
So trägt ein durch das weibliche und männliche Element gebildeter Körper zwar den Erbstrom beider Familien in sich; dennoch haben wir in dem Augenblick der Verschmelzung beider polaren Kräfte einen „Nullpunkt“, indem die Anlagen beider Erbströme eine Vielfalt von Möglichkeiten für einen neuen Anfang bilden. Im Gegensatz dazu wird eine sich in einem geklonten Körper inkarnierende Seele bereits verstärkt mit der gewesenen Raumzeitqualität einer anderen Seele konfrontiert. Darin liegt einerseits die Gefahr, von den dem Christus entgegenwirkenden Wesenheiten an die Vergangenheit gebunden und von der weiteren Entwicklung isoliert zu werden, andererseits die Möglichkeit, an diesem Widerstand die Ich-Kräfte in besonderem Maße zu entwickeln.
Um den Versuchungen des Ich durch Luzifer, Ahriman, die Asuras und den Sonnendämon Sorat zu begegnen, müssen entsprechende ausgleichende Seelenkräfte ausgebildet werden, die sich auf dem inneren Entwicklungsweg zum Schauen des Christus entfalten.

1 Stephen Hawking, Das Universum in der Nussschale, S. 172f.
2 GA 346. 12.9.1924



Der Kampf um die menschliche Mitte IV
Artikel von Zoran Perowanowitsch Buchvorstellung


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