DIE DREI NATÜRLICHEN SONNEN

Erkenntnisweg und innere Haltung

im Zeichen des Rosenkreuzes



Wir können in der Gegenwart verstärkt beobachten, wie immer mehr Menschen meist unbewusst die Grenzlinie zwischen der sinnlichen und übersinnlichen Welt überschreiten, ohne jedoch zuvor ihre eigene Person verobjektieviert zu haben. Dadurch wird die polare Sichtweise des gewöhnlichen Vorstellungslebens in die übersinnliche Sphäre hineingetragen, die sich uns dann nur in verzerrten Bilder offenbaren kann.
Der innere Rhythmus einer gesunden Bewusstseinsentfaltung bezieht sich jedoch nicht auf die polaren Vorstellungen wie beispielsweise oben und unten als sich ausschließende Gegensätze, sondern folgt dem „Gesetz des Lebens“, in dem das “Niedere“ dem „Höheren“ und das „Höhere“ dem „Niederen“ zur Entfaltung der Mitte dient.
Diesen Pendelschlag der inneren Entwicklung finden wir in der geistigen Strömung der Rosenkreuzer aufgezeigt.

Wenn wir uns in den geschichtlichen Überlieferungen auf die Suche nach der Bruderschaft der Rosenkreuzer begeben, so kann uns bald eine Ratlosigkeit erfassen. Wir lesen Berichte über Rosenkreuzer die unerkannt im Lande reisen, Kranke heilen, sich unsichtbar machen können, gar Unsterblichkeit besitzen, oder Metalle in Gold verwandeln. Wir finden hier eine Andeutung, die es Wert erscheint ihr zu folgen, um sich dann jedoch wieder in einer Sackgasse zu finden. Keine rechte Spur will sich einem auftun und all die Überlieferungen scheinen der allzu regen menschlichen Phantasie entsprungen.Wenn man dann schon aufgeben möchte, da sich einem ein der inneren Logik angemessener Strom nicht offenbaren will, dann kann es geschehen, dass die einzelnen verstreuten Aussagen über den Erkenntnisweg und die innere Haltung der Rosenkreuzer wie einzelne Keime in einem „inneren Raum“ zu schweben und durch die Kraft der Imagination untereinander sinnhafte Entsprechungen und Beziehungen zu knüpfen beginnen.
Im Zusammenwirken von Imagination und der sich im weiteren streben entfaltenden Inspiration jenseits des Vorstellungslebens beginnt sich einem jedoch allmählich die dahinterwirkende Qualität dieser einzelner Bilder als der Wille einer geistigen Strömung zu offenbaren.
Um sich jedoch der Quelle dieses Willensimpulses zu nähern, muss zuvor, das wussten die dem Rosenkreuzertum verpflichteten Individualitäten, eine Ebene der Seelenentwicklung erreicht werden, die in der christlichen Tradition als Sophia, die kosmische Weisheit, bezeichnet wird. Diese Seelenebene ist nur durch die Kraft der Intuition zu verwirklichen. Und so bestimmt dieses Bemühen als Hauptmotiv das Thema des Buches „Geheime Figuren der Rosenkreuzer, aus dem 16. und 17. Jahrhundert“, dass in Altona anonym im Jahre 1785 herausgebracht wurde.
Erhalten wir durch die Imagination das Bild einer „Wirksamkeit“ die sich uns dann in der Inspiration als wesenhaftes kundtut, so bedeutet die Erfahrung der Intuition das Eins-werden mit dieser Wesenheit. Dies geschieht jedoch nicht in der Weise, dass sich der Mensch darin verlieren würde, sondern vielmehr bewahrt er sich in seinem Ich und durchdringt das Wesen mit seinem Bewusstsein. Es ist eine Erfahrung jenseits der gewöhnlichen polaren Wahrnehmung. Und so weisen die Rosenkreuzer in ihrer Symbolsprache beispielsweise der Sonne und dem Mond, dem Mannes und der Frau, den Elementen des Feuers und des Wassers immer wieder auf die polaren Wirksamkeiten auf den unterschiedlichen Ebenen des Bewusstseins und auf den Weg zu deren Harmonisierung hin.
Die Grundlage unseres alltäglichen Bewusstseins bildet das Spannungsfeld der polaren Kräfte, sowohl auf der physischen als auch auf der seelischen Ebene. Weich und hart, Sympathie und Antipathie sind die grundlegenden und bestimmenden Faktoren unseres Seins auf dieser ersten Ebene der polaren Wirksamkeit.
Wenn sich das Ich des Menschen jedoch aus der Gebundenheit an die selbsttätige Unruhe des Vorstellungs -und Empfindungslebens löst, dann erfährt es die in den polaren Kräften ruhenden Grundqualitäten des Zusammenziehens und sich-Lösens und die daraus erwachsende Geisteskraft der Aufmerksamkeit und Seeleneigenschaft der Hingabe. Diese beiden geistig-seelischen Eigenschaften stehen dann nicht mehr in einem Spannungsverhältnis zueinander, sondern ergänzen und bedingen sich. Sie sind in ihrem geläuterten Aspekt die Grundqualitäten des Ich und des Astralleibes.
Betrachten wir das Bild „Das Ergon und Parergon der Rosenkreuzer“ von Theophilius Schweighart, dann sehen wir einerseits die bis hierher beschriebene innere Entwicklung des Menschen dargestellt, andererseits, wie der Entwicklungsweg der Rosenkreuzer weiterführt.
Die Engelsgestalt inmitten des Bildes stellt die kosmische Weisheit Sophia dar. Über ihr zur Rechten befindet sich das Bild der Sonne und zur Linken das des Mondes. Von diesen beiden führen zwei Strahlen zu der Engelsgestalt hin, die sich im Bauchraum kreuzen, worin wir ein Kind abgebildet sehen. Die Sonne und der Mond sind auf dieser Darstellung als Polaritäten der zweiten Ebene, also auf der geistig-seelischen, zu verstehen. Die Sonne steht hier für das freie Ich und der Mond für den geläuterten Astralleib. Das Kind im Bauch, dem „Raum der Kraft“, oder der „heiligen Nacht“, ist der „neue Mensch“, der auf dem spirituellen Weg durch die Arbeit an dem Vorstellungs -und Emfindungsleben geboren wird, jedoch nicht in einem neuen physischen Körper, sondern durch das befreite Ich und den geläuterten Astralleib, deren Eigenschaften Aufmerksamkeit und Hingabe sind.

Nach dem spirituellen Gesetz, dass zwei identische Bewusstseinsqualitäten nicht zwei voneinander verschiedene „Räume“ einnehmen können, erfährt der „neue Mensch“ eine „Himmelfahrt“. Er vereinigt sich durch das Sich Herauslösen aus dem physischen Körper über das Haupt hinaus mit dem kosmischen „blauen Bewusstseinsraum“, der Sophia. Er realisiert in diesem Erblühen zu einer blauen Blume die dritte Ebene der Polarität, wird sich intuitiv der kosmischen Entsprechung seines Ich und des Astralleibes bewusst, der Polarität von Sein im Ich und Nicht-Sein in der Passivität des Bewusstseins. Hier realisiert der Rosenkreuzer durch die Kraft der Intuition die Sphäre der kosmischen Weisheit der Sophia oder die des Geistselbst, das Bewusstsein des sich Selbst-Seins.

Wissen wir um diese Vorgänge der inneren Entwicklung dann können wir die Rosenkreuzerdarstellungen zu verstehen beginnen.

Lesen wir aus diesem Hintergrund die folgenden Zeilen aus den Geistlichen Liedern von Novalis, dann können wir sie nicht nur als eine bildhafte dichterische Neigung, sondern als Beschreibung einer realen Erfahrung verstehen.

Da ich so im Stillen krankte,

Ewig weint und wegverlangte,

Und nur blieb vor Angst und Wahn:

Ward mir plötzlich wie von oben

Weg des Grabes Stein gehoben,

Und mein Innres aufgetan.

Und wenn Novalis immer wieder in seiner Dichtung auf die blaue Blume zu sprechen kommt, nach der sich sein ganzes Gemüt sehnt, dann drückt sich darin die Sehnsucht nach dem Sophienerleben aus.
Das Bild von Theophilius Schweighart trägt den Titel: „Das Ergon und Parergon der Rosenkreuzer“, was in seiner Bedeutung: Das eigentliche Werk (Ergon) und das Beiwerk (Parergon) der Rosenkreuzer bedeutet. Die innere Entwicklung des Menschen, wie wir sie bis hierher behandelt haben, versteht der Rosenkreuzer somit, wie aus dem Bild zu ersehen ist, als Beiwerk. Schweighart drückt es noch deutlicher aus, indem er zu den Menschen die diese Vorgänge anders verstehen sagt, dass es für den, der es anders handhabt, besser wäre, er hätte ein Mühlstein am Hals Hängen und wäre im Abgrund des Meeres versenkt.
Die Rosenkreuzer unterschieden also den inneren Entwicklungsweg in ein „kleines Werk“ und ein „großes Werk“. Das „kleine Werk“ war vollbracht, wenn der Suchende, im Bild ausgedrückt, Metalle in Silber verwandeln konnte, wie es die Alchemisten dann auch real zu bewerkstelligen suchten. Innerlich verstanden ging es darum, die Astralsphäre, der das Metall Silber und die Mondensphäre zugeordnet wurde, beherrschen zu lernen. So entspricht das „kleine Werk“ oder Parergon der Stufe des intuitiven Erfahrens der Sophia. Der Rosenkreuzer versteht diese Bewusstseinsstufe als Beiwerk, da sie ihm „nur“ die Vorbedingung darstellt, jenes geistige Wesen zu schauen, welches ihm die eigentliche Quelle seines Tuns ist.
Welche Erfahrung deutet Schweighart mit diesen Worten an, welche Erlebnisse führen ihn zu dieser Erkenntnis des Ergon und Parergon?
Rudolf Steiner spricht vom großen Hüter der Schwelle, der dem Suchenden begegnet, um ihm sich zwei vor ihm öffnende Wege zu zeigen. Der eine Weg führt ins Kosmische und stellt eine Entwicklung dar, die sich von der der Erde löst. Auf dem zweiten Weg wendet sich der Mensch wieder zur Erde hin, um an der weiteren Entwicklung der Erde und Menschheit mitzuwirken, da ihm der untrennbare Zusammenhang zwischen der eigenen Entwicklung und den der Erde bewusst wird. Aus diesem inneren Wissen konnte den Rosenkreuzern das Erleben der Sophiensphäre kein Selbstzweck sein. Indem sie das nun erfahrene kosmische Bewusstsein der Sophia, der blauen Blume, in die Zeit zu integrieren suchten, opferten sie ihren Eigenwillen und vollzogen so die Stufe der Hingabe an den göttlichen Willen, das Ergon, was im oberen Teil des Bildes dargestellt wird.
Wenn du die blaue Blume auf dem Berg findest, sagt Novalis, „so pflücke sie und überlass dich dann demütig der himmlischen Führung.“
Diese vollzogene Hingabe leitet den Beginn einer neuen Ebene der inneren Entwicklung ein, in der der Mensch das innere Licht erkennt und so an dem die Welt durchfließenden Willen teilzuhaben beginnt. Diesen Bewusstseinszustand beschreibt Novalis mit folgenden Worten: „Wir sind mit nichts, als mit der Erhaltung einer heiligen und geheimnisvollen Flamme beschäftigt“.
Der Schauung des Christus im „Großen Hüter der Schwelle“ kommt in der nahen Zukunft eine wichtige Bedeutung zu, da immer mehr Menschen in die Sphäre der Sophia oder in die des Geistselbst Einblicke gewinnen werden. So ist es nicht unwichtig, welchen der beiden Wege eine spirituelle Anschauung vertritt.
Aus der Erkenntnis der weiteren Stufen der rosenkreuzerischen Entwicklung werden wir auf eine fast zu übersehende Darstellung in dem Buch „Geheime Figuren der Rosenkreuzer“ auf der Seite 14 mit der Bezeichnung: „Drey natürliche Sonnen in der Welt“ aufmerksam. Die Darstellung nennt „die grosse Sonne am Himmel. Vater und Mutter aller Creaturen“, dann „die kleine Sonne in dem Menschen“ und „die unterste Sonne in der Erde“. Doch die eigentliche Weisheit der Rosenkreuzer besteht im Wissen, dass sich durch dieses äußere Bild der drei natürlichen Sonnen Christus dem Menschen in dreifacher Weise offenbart, wenn das Sophienbewusstsein nicht als Selbstzweck, sondern als eine Gabe verstanden wird, um uns aus den Raumesweiten wieder der Zeit zuzuwenden, indem sich, wie im Grundriss des ersten Goetheanums dargestellt, die 12 -und die 7 Zahl, der Raum und die Zeit durchdringen.
Im Prolog des Johannesevangeliums erkannten die Rosenkreuzer die gleiche Weisheit ausgesprochen. Es sollen hier nur die entsprechenden Sätze hervorgehoben werden:

1.Im Urbeginne war das Wort...Durch es sind alle Dinge geworden.

2.In ihm war das Leben und das Leben war das Licht der Menschen.

3.Und das Licht scheint in der Finsternis; aber die Finsternis hat es nicht aufgenommen.

Diese drei Aussagen entsprechen den drei natürlichen Sonnen der Rosenkreuzer, die über sich hinaus auf den Christus weisen.
Die kosmische Sonne ist der Christus in seiner ersten Offenbahrung als das Urwort, als der gegenwärtige „Hüter der Schwelle“. Die zweite kleine Sonne im Menschen ist der Christus in seiner zweiten Offenbahrung als die Quelle des Lebens selbst, das wesenhafte Licht, das uns aus dem Herzen zuströmt. Dann sprechen die Rosenkreuzer von der dritten untersten Sonne in der Erde, die wir auch in der Darstellung auf Seite 10 in dem Buch „Geheime Figuren der Rosenkreuzer“ wiederfinden.
Es ist die Imagination des gekreuzigten Christus inmitten der Erde, der das Kreuz der Materie aufs Neue auf sich genommen hat.

Im „kleinen Werk“ werden die Metalle in Silber umgewandelt, d. h. der Astralleib geläutert. Im „großen Werk“ wird, durch die vollzogene Opfertat, durch Fähigkeiten, die dem Rosenkreuzer besonders durch die Kraft der zweiten Sonne, der mittleren Qualität auf der ätherischen Ebene zukommen, an der Harmonisierung der drei Sonnen zu einem Erlösungswillen gearbeitet, wodurch die Erlösung des gekreuzigten Christus aus der Gebundenheit an die Materie eingeleitet wird. Durch dieses Wirken und die damit verbundene Erlösung der Christuskraft wird der Mensch ein bewusst Mittätiger an der Umwandlung der Erde zu Gold, zu einer neuen Sonne. Dazu bedarf es jedoch eines freien Willensentschlusses des Menschen, wozu der Christus, wie es im Bild dargestellt wird, in erwartender Haltung die Arme ausbreitet. Es ist eine „Einladung“ und keine moralische Forderung, an den Menschen, das „große Werk“ mitzuvollbringen.

Wenn wir diesem hier behandelten Erkenntnisweg der Rosenkreuzer innerlich folgen, dann stellt er sich wie ein Erblühen und ein sich wieder Herniederbeugen dar. Ein Rhythmus, der sich im Einklang mit den Naturgesetzen befindet und somit den Kosmos und die Erde in sich vereint.

Denselben Rhythmus finden wir in den geheimnisvollen Zeilen der „Tabula Smaragdina“ die dem Hermes zugesprochen werden. Sie nehmen eine zentrale Bedeutung in der westlichen Mystik ein und wurden deshalb auch im Buch „Geheime Figuren der Rosenkreuzer“ aufgenommen:

Es ist wahr ohne Lüge, es ist gewiss auf's Allerwahrhaftigste!
Das Untere ist gleich demjenigen, das Oben ist. Und was Oben ist, ist gleich demjenigen das Unten ist, um das Wunder eines Einzigartigen Dinges zu Stande zu bringen.
So wie alle Dinge von dem Einzigen und durch seinen Plan gemacht sind, so entstammen alle geschaffenen Dinge von diesem Einzigen durch Adoption.
Sein Vater ist die Sonne, seine Mutter der Mond.
Der Wind hat es in seinem Bauch getragen.
Seine Ernährerin ist die Erde.
Es ist der Vater aller Vollendung der ganzen Welt und seine Tugend ist vollkommen.
Wenn es in Erde verwandelt worden ist, ist seine ganze Kraft beisammen.
Trenne die Erde vom Feuer, das Subtile vom Dichten, schrittweise und mit grossem Verstand.
Es steigt von der Erde zum Himmel und wieder zur Erde hinab und empfängt dabei die Kraft des Oberen und des Unteren.
So erhältst du die Herrlichkeit der ganzen Welt. Oben wird von dir aller Unverstand weichen. Das Einzigartige ist von aller Stärke die stärkste Stärke, weil es alle subtilen Sachen besiegt und alle festen durchdringt.
Auf diese Weise ist der Kosmos geschaffen.
Von da stammen die wunderbaren Nachahmungen, die Art und Weise derselben ist hierin beschrieben.
Deswegen heisse ich der dreimalgroße Hermes, denn ich habe die drei Teile der Weisheit der ganzen Welt.
Was ich von dem Wirken der Sonne gesagt habe, ist vollendet und vollkommen.

In dem Symbol das den Zeilen beigefügt wurde, können wir den hier aufgezeigten Erkenntnisweg und die innere Haltung der Rosenkreuzer in imaginativen Bildern im Ganzen dargestellt finden.
Die Anfangsbuchstaben der lateinischen Inschrift um den Kreis: Vista Interiora Terre Rectificando Invenies Occultum Lapidem, ergeben den Namen „VITRIOL“, was für den Prozess der Transmutation, der Umwandlung von Blei zu Gold oder auf die Erde bezogen zu einer neuen Sonne, steht. Die Bedeutung des Satzes ist: „Suche das Untere der Erde auf, vervollkommne es, und du wirst den verborgenen Stein finden“.


Artikel von Zoran Perowanowitsch Buchvorstellung


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