Die Rosenkreuzmeditation

Eine der grundlegenden Meditationen, die Rudolf Steiner am ausführlichsten dargestellt hat (in: «Die

Geheimwissenschaft im Umriß» in dem Kapitel «Die Erkenntnis der höheren Welten», Gesamtausgabe Bibl.Nr.13), ist

die sogenannte <Rosenkreuzmeditation>. Sie soll hier als Ausgangspunkt genommen werden, und von dort aus können

dann weitere Schritte des meditativen Erkenntnisweges der Anthroposophie beschrieben werden.

Zunächst ist es wichtig, sich klarzumachen, daß diese Meditation in vier Stufen verläuft. Man muß diese Stufen nicht

alle auf einmal beherrschen, sondern man beginnt mit der ersten Stufe - auch das hat schon einen Wert in sich -, geht

dann über zur zweiten usw., ohne sich gezwungen zu fühlen, gleich alle vier zu beherrschen.

Die erste Stufe der Rosenkreuzmeditation besteht in ihrem gedanklich-empfindungsmäßigen Aufbau vom alltäglichen

Bewußtsein aus. Diese Stufe ist für die Meditation unabdingbar, sie ist die Vorstufe der eigentlichen Bildmeditation.

Wenn man diese Stufe überspringt, verliert die ganze Meditation ihre Kraft.

Es beginnt mit einem einfachen Vergleich:

Man stelle sich eine Pflanze vor, draußen in einem Garten, ihre Wurzeln, die sie in der Erde halten und mit denen sie

ihre Nahrung aufnimmt, ihren Stengel, der sie über die Erde erhebt, ihre grünen Blätter, die das Licht verarbeiten, und

schließlich ihre Blüte. Dann mache man sich bewußt, daß diese Pflanze ihr ganzes Leben über immer an ein und

demselben Ort bleibt. Dabei ist alles, was sich in der Pflanze entwickelt, vorbehaltlos und harmonisch eingegliedert in

das ganze Weltenall. Es gibt nicht die geringste Neigung zur Opposition oder zum Widerstand gegen die Umgebung,

alles befindet sich in schönstcr Harmonie.

Nun stelle man sich daneben einen Menschen vor. Man sieht sofort die unendlich viel größeren Möglichkeiten, die er

gegenüber einer Pflanze hat, dadurch, daß er sich im Raum bewegen kann und nicht das ganze Leben über nur an einem

Ort bleiben muß. Der Mensch bewegt sich frei – nicht nur physisch auf der ganzen Erde, sondern auch geistig-seelisch -,

Neues aufbauend, was vorher nicht vorhanden war, sein ganzes Wesen ragt weit über das der Pflanze hinaus.

Doch gleichzeitig hat der Mensch etwas in sich, was genauso weit unter das Wesen der Pflanze hinunterreicht. Denn in

dieser frei sich entfaltenden Tätigkeit kommen Leidenschaften und Triebe zum Ausbruch, die so gerichtet sind, daß sie

zerstörerisch wirken: Haß, Neid, Verrat, Lüge, ja sogar Mord - und zwar nicht nur nach außen gerichtet, sondern

durchaus auch selbstzerstörerisch, bis hin zum Selbstmord.

Der Mensch reicht also gleichzeitig höher und tiefer über die Pflanze hinaus: Er hat die Möglichkeit zur freien Tätigkeit

oder zum Absturz in die Leidenschaften und Triebe, in die Zerstörung der ganzen Erde, einschließlich der eigenen Existenz.

Ausdruck dieses Verhältnisses ist das rote Blut des Menschen im Unterschied zum grünen Saft der Pflanze. Diese

Qualitäten muß man nun versuchen zu empfinden: seligste Harmonie im Grün der Pflanze und ernste Stimmung in dem

Rot des Blutes.

Was heißt in diesem Zusammenhang <ernst>? - <Ernst> bedeutet hier, daß beide Möglichkeiten in diesem Blut

vorhanden sind: der Aufstieg nach oben und der Absturz nach unten. Ein Mensch kann vor einer großen Entscheidung

stehen, und es kann sich etwas sehr Großes daraus ergeben, es kann aber auch vollständig schief gehen. Das ist dann

diese <ernste> Stimmung, die man auch als Entscheidungsstimmung bezeichnen könnte, und die unterscheidet sich sehr

stark von der Stimmung, die man bei dem Grün der Pflanze hat. Bei der Pflanze ist alles festgelegt, beim Menschen ist

es völlig offen, wie er sich entwickeln wird.

Er kann z.B. beginnen, an diesen Leidenschaften und Trieben zu arbeiten, denn die Triebe und Leidenschaften sind

prinzipiell nicht niedrig - sie sind objektive Wesenskräfte-, es kommt nur darauf an, in welchem Zusammenhang sie

sich entfalten. Die Kräfte selbst sind nicht niedrig, aber es liegt etwas Niedriges in ihnen, das sich da zeigt, wo es ins

Zerstörerische geht. Dieses Niedrige an den Trieben und Leidenschaften kann der Mensch jetzt in sich selbst

wahrnehmen und sehen, daß alles dieses eigentlich zum Tode führt, zur Zerstörung. Man verspürt diese Qualität des

zum Tode Führenden ganz deutlich, und eine weitere Empfindung ist dann: Das Niedrige an den Trieben und

Leidenschaften stirbt - nicht die Leidenschaften und Triebe selbst sterben, sondern das, was niedrig an ihnen ist, das

trägt den Tod in sich, das kann man sterben lassen. Das ist zugleich die Voraussetzung für eine Höherentwicklung des

Menschen, denn jetzt wird das Blut anders. Wenn dieses Absterben stattfindet, dann wird das Blut zum Ausdruck des

gereinigten Seelenlebens.

Wenn man mit diesem inneren Empfindungsbild beim Aufbau der Rosenkreuzmeditation nun innerlich zur Pflanze

zurückgeht, dann kann man sich dabei eine Rose vorstellen und sehen, daß in ihren roten Blütenblättern dieselbe

ausgewogene Harmonie herrscht wie in dem Grün ihrer Blätter.

Die rote Rose wird nun bewußt als Sinnbild für dieses von den Leidenschaften und Trieben gereinigte Blut gewählt.

Die Voraussetzung dafür ist aber der Durchgang durch den Tod des Niedrigen in den Leidenschaften und Trieben im

Seelenleben des Menschen.

Jetzt wählt man als nächstes ein Symbol für diesen Sterbeprozeß: ein schwarzes Kreuz - das Bild des Todes. Das Kreuz

wird zum Sinnbild für alles, was an den Leidenschaften und Trieben in die Zerstörung, in die Dishannonie, in den Tod

führt. Alles, was so den Tod in sich trägt, wird zu diesem Bild des schwarzen Kreuzes verdichtet. Und aus diesem Kreuz

läßt man nun sieben rote Rosen in einem Kreis strahlend hervorblühen, genau an der Stelle, wo die Balken des Kreuzes

sich schneiden.

Dieser ganze bisher beschriebene Vorgang ist die erste Stufe der Rosenkreuzmeditation: In dem Vergleich von Pflanze

und Mensch wird etwas aus dem alltäglichen Bewußtsein übernommen,

aber es wird bewußt gewählt und zusammengestellt, und dabei entsteht ein Bild.

Aber dieses Bild kann stark oder schwach sein, je nachdem, wie stark die Gedankenführung beim Aufbau des Bildes ist.

Außerdem wird die Intensität des Bildes durch die Empfindungen verstärkt, die den Aufbau durch die Gedanken

begleiten. Wenn man den Vergleich von Pflanze und Mensch nur gedanklich ausführt, ohne ihn mit Empfindungen zu

begleiten, dann bleibt das Bild kalt und blaß. Je intensiver man sich mit seinen Empfindungen und Gefühlen in das

gedanklich aufgebaute Bild einlebt, um so intensiver wird es einem erscheinen. Jeder der beschriebenen Schritte muß

mit vollem Bewußtsein gedanklich aufgebaut und gefühlsmäßig durchdrungen werden: das Grün der Pflanze, ihre

Harmonie mit der Umgebung - das Rot des menschlichen Blutes und die beiden Möglichkeiten des Aufstiegs nach oben

oder des Sturzes in das Zerstörerische der Triebe - die <ernste> Stimmung in der Entscheidungssituation des Menschen

usw. Dann entsteht bei dem Gedanken der Möglichkeit einer Höherentwicklung in dem Gang durch den Tod ein Gefühl

der Beglückung, und dadurch wird das Bild, das man so aufgebaut hat, tief empfindungsgesättigt.

Nun folgt die zweite Stufe der Rosenkreuzmeditation, wo es darum geht, sich ganz in das aufgebaute Bild

hineinzuversenken: Man vertieft sich mit seiner ganzen Kraft in das Bild des schwarzen Kreuzes mit den sieben

strahlenden roten Rosen, die in der Mitte des Kreuzes aufblühen. Dabei entfallen nun aber alle Gedanken und Überlegungen,

die man sich vorher gebildet hat, denn die gehören zur ersten Stufe. Das Ergebnis dieser aufbauenden

Gedankenarbeit gießt sich hinein in die Intensität der Empfindung des Rosenkreuzes.

Wenn die Aufbauarbeit in Gedanken nicht ordentlich geleistet wurde, kommt es zu keinem intensiven Bild auf dieser

zweiten Stufe. Daher läßt sich die erste Stufe auch nicht einfach überspringen. Zuerst muß der gedankliche Aufbau

geleistet worden sein, dann kommt die eigentliche Bildmeditation: das tiefe Empfinden des Bildes.

Nun wird es immer so sein, daß dieses Bild bei einigen Menschen in hellen, klaren Farben auftritt, bei manchen sogar so

stark, daß es stärker erscheint als beim physischen Sehen. Bei anderen dagegen kann es sein, daß sie das Bild nur ganz

schwach vor sich sehen, und wenn die Rosen schließlich erscheinen, dann sind sie grau anstatt strahlend rot.

Es kommt hierbei jedoch gar nicht so sehr auf den Erfolg in der Stärke des Bildes an, sondern allein auf die innere

Anstrengung, die man aufbringen muß, auf die Bemühung um die Sache. Denn um die Bildmeditation durchzuführen,

muß eine zusätzliche Kraft im Innern aufgewendet werden, die beim äußeren Wahrnehmen nicht betätigt zu werden

braucht. - Wenn ein äußerer Gegenstand angeschaut wird, oder wenn ein Erinnerungsbild wachgerufen werden soll,

dann entsteht das wie von selbst, ohne besonderes Zutun. Bei der Bildmeditation aber gibt es keine äußeren oder inneren

Vorgaben und Beweggründe - hier muß das Bild aus ureigenster Kraft selbst erzeugt werden.

Nun kann dieses Bild aber so auftreten, daß es ,sehr weit entfernt erscheint, und man versucht, näher heranzukommen.

Hier ergibt sich eine neue Qualität, wenn es gelingt, nicht vor dem Bild zu bleiben und es bloß zu betrachten, sondern in

dem Bild selbst zu ]eben. Das bedeutet, daß es jetzt keinen Betrachter und kein Betrachtetes mehr gibt, sondern daß das

Ganze ein einziges Geschehen wird, das man erlebt und empfindet. Damit ist die zweite Stufe der Rosenkreuzmeditation

erreicht.

Nun könnte man sich fragen, warum es gerade sieben Rosen sein müssen, die in dem schwarzen Kreuz aufblühen

sollen - zunächst kommt es doch nur darauf an, daß das Absterbende im Symbol des schwarzen Kreuzes und das

Aufblühende im Symbol einer roten Rose erfaßt wird. - Das ist natürlich richtig-der Kontrast zwischen dem

Absterbenden und dem Aufblühenden steigert sich aber, wenn es nicht nur eine Rose ist, was durchaus möglich ist,

sondern mehrere. Warum dann aber gerade sieben? Wenn sieben Rosen meditiert werden, dann ist zunächst wichtig, daß

diese aus einem Guß erscheinen und nicht nur aneinander gestückelt. In der Zahl Sieben liegt aber zusätzlich eine

besondere Qualität, die sich auch in großen zeitlichen Entwicklungsrhythmen zeigt, und das verstärkt einfach das

Ergebnis der Meditation. Es ist jedoch nur ein Vorschlag, den man annehmen kann oder nicht, eine zwingende Regel

gibt es nicht. Es läßt sich ebensogut auch nur eine Rose vorstellen, aber die wirkt eben nicht so stark.

Es stellt sich unter Umständen während der Meditation aber noch ein anderes Problem: Durch die innere Anstrengung

kann es passieren, daß man sich körperlich verkrampft, weil die Kraft, die innerlich aufgebracht werden muß, dann nicht

in die Bildtätigkeit hineingeht, sondern plötzlich in die Muskeln abgleitet. Dieses Abgleiten verspürt man dann hinterher

als Verspannung im Hals oder anderswo, es kann aber auch in einem Knirschen der Zähne zum Ausdruck kommen.

Um das zu verhindern , ist es ratsam, vor der Meditation eine ganz entspannte, aufrecht sitzende Haltung einzunehmen

und zu prüfen, ob bei beginnen der Übung sich nirgends im Körper solche Verspannungen ergeben.

Nun folgt die dritte und vierte Stufe. Viele Menschen führen diese beiden Stufen überhaupt nicht durch, sondern bleiben

beim Aufbau und bei der Bildmeditation stehen. Das ist voll berechtigt, denn beide haben ihren für sich bestehenden

Wert.

Die dritte Stufe besteht dann aber darin, daß das Bild verschwindet und alle Aufmerksamkeit auf jene Kräfte in

der Seele gerichtet wird, die das Bild hervorgebracht haben. Das ist zunächst nicht einfach, denn meistens wird

dabei gar nichts erlebt. Man kehrt dann zu den beiden ersten Stufen zurück und versucht, diese zu verstärken.

Ist das in ausreichendem Maße erfolgt, dann gelingt es schon eher, daß das Bild nun ausgelöscht und die

Aufmerksamkeit allein auf die seelischen Kräfte, die das Bild erzeugt haben, gelenkt werden kann. Ganz in

diesen Kräften zu leben, das gelingt freilich zunächst nur für kurze Augenblicke. Aber je mehr dieses geübt und

verstärkt wird, können die kurzen Momente auch ausgedehnt werden.

Auf der vierten Stufe, die dann folgt, werden auch noch die Kräfte, die das Bild erzeugt haben, ausgelöscht, und

die Aufmerksamkeit richtet sich nur noch auf das geistige Wesen, das diese Kräfte hevorgebracht hat. Dabei

wird es in der Regel so sein, daß zu Anfang überhaupt nichts im Bewußtsein erscheint, auf das die meditative

Aufmerksamkeit gerichtet werden könnte.

Auch hier muß man dann wieder zu den vorhergehenden Stufen zurückkehren und den Aufbau, das Leben im Bild und

die Meditation der Kräfte erneut verstärken. Wenn man jetzt, nach oft sehr langer Übung, zur vierten Stufe übergeht,

dann wird die innerste, geistige Wesenskraft in der Seele bewußt.

Um die vierte Stufe, die sehr schwierig ist, vorzubereiten, gibt es ein kleines Hilfsmittel, das hier beschrieben werden

soll.

Man stelle sich in einem großen Bild die ganze Menschheitsentwicklung vor, und nun denke man sich, kein einziger

Mensch könnte im Laufe dieser Entwicklung die Rosenkreuzmeditation durchführen. Nachdem man sich das

vorgestellt hat, macht man sich klar, daß es ja doch möglich ist, aber nur dadurch, daß ein ganz individueller Mensch

es tut. Dazu muß er eben die innerste, geistige Wesenskraft aufbringen. Und nun richte man die Aufmerksamkeit ganz

auf diese innerste Kraft, die es ermöglicht, daß die Rosenkreuzmeditation doch durchgeführt werden kann. Durch

diese Hilfsvorstellung kann nun die Wesensbegegnung mit dem eigenen höheren Selbst, um die es sich bei der vierten

Stufe handelt, vorbereitet werden.

Zusammengefaßt ergibt sich also folgender Aufbau der Rosenkreuzmeditation:

l. Stufe: Gedanklicher Aufbau, von Empfindungen durchdrungen, so stark und tief wie möglich.

Dabei ist die Empfindung bei jeder Vorstellung genauso wichtig wie der Gedankeninhalt.

2. Stufe: Bildmeditation, sich ganz in das Bild einleben, nicht beim Betrachten stehenbleiben.

3. Stufe: Das Bild verschwindet, Konzentration auf die Kräfte, die das Bild erzeugt haben.

4. Stufe: Wesensbegegnung, Konzentration auf das Wesen, das die bilderschaffenden Kräfte hervorgebracht hat.

Nun kann man zunächst, wie schon angedeutet, durchaus bei den ersten beiden Stufen stehenbleihen - vielleicht sogar

über Jahre hindurch. Man kann sich dabei aber auch täuschen, denn jeder Mensch kann im allgemeinen viel mehr, als

er sich selbst zutraut, nur ist es eben anstrengend, diese Kraftreserven hervorzulocken. Aber man verpaßt auch eine

Chance, wenn man immer nur die Kräfte mobilisiert, die man eben gerade zur Verfügung hat, und deshalb bei der

zweiten Stufe stehenbleibt: Durch den Versuch nämlich, auch wenn er mißlingt, die dritte und vierte Stufe trotzdem

zu wagen, wird im Innern eine Kraft geweckt, durch die die erste und zweite Stufe, zu denen man dann zurückkehrt,

verstärkt werden. Die Kräfte, die bei der Anstrengung des Versuchs geweckt werden, gießen sich hinein in den Aufbau

und die Bildmeditation. Besonders wenn man dann noch die beschriebene Hilfsvorstellung hinzugenommen hat,

durch welche die Aufmerksamkeit auf die innerste Wesenskraft gelenkt wurde, kann der Aufbau der Meditation und das

Bild des Rosenkreuzes viel deutlicher werden, durch die jetzt spürbar werdende Nähe des eigenen höheren Selbst.

Gedankenkontrolle

Blickt man jetzt von der Rosenkreuzmeditation zurück auf das Alltagsleben, dann stellt sich bald heraus, daß viele

Menschen große Schwierigkeiten haben, ihre Gedanken und Empfindungen genügend zu konzentrieren. Sobald sie sich

an den Aufbau der Meditation begeben oder in die Bildmeditation einsteigen, beginnen sie plötzlich, an etwas ganz

anderes zu denken: Fehlende Konzentration! Es gelingt nicht, sich zu sammeln, die Gedanken verfliegen, werden

zerstreut und springen zwischen den verschiedensten Assoziationen hin und her.

In diesen Fällen gibt es die Möglichkeit, zum Alltagsbewußtsein zurückzugehen und jetzt nicht wieder mit dem Aufbau

der Meditation zu beginnen, sondern eine vorbereitende kleine Übung durchzuführen: die Gedankenkontrolle.

Die Gedankenkontrollübung befaßt sich nicht mit einem bedeutenden Thema der Menschheitsentwicklung, sondern

konzentriert sich auf einen ganz einfachen Gegenstand, etwa ein Taschenmesser, wo es nur darum geht, in kurzer Zeit,

vielleicht fünf Minuten lang, Gedanken über dieses Taschenmesser zu bilden. Es kommt darauf an, daß der Gegenstand

so einfach wie möglich ist, kein komplexer Zusammenhang, sondern etwas ganz Banales, und darauf die Gedanken fünf

Minuten lang zu konzentrieren und zu beobachten, ob man es schafft, bei der Sache zu bleiben.

Die Kräfte zur Entwicklung eines höheren Bewußtseins hat jeder Mensch in sich, aber sie schlafen, d.h. sie sind

normalerweise zerstreut, schweifen in alle möglichen Richtungen und werden daher gar nicht bemerkt. Durch die

Konzentration in der Gedankenkontrollübung werden diese Kräfte jetzt auf ein ganz einfaches Thema gerichtet, wo es

möglich ist, sich nicht zu verzetteln, und wo man selbst bestimmt, was gedacht wird: Anders als im Alltag, wo das

Denken vor allem durch die Fülle der äußeren Sinneswahrnehmungen bestimmt wird, muß es jetzt bewußt geführt und

kontrolliert werden.

Man beginnt vielleicht mit der Klinge des Taschenmessers: Aus welchem Material ist es, woher kommt es, wie wird es

hergestellt? usw. In jedem Fall ist es wichtig, daß man bei dem bleibt, was man sich vorgenommen hat zu denken. So

könnte man auch fünf Minuten lang nur an die Spitze des Taschenmessers denken, was dann aber etwas schwieriger ist,

da dann weniger Inhalt vorgegeben ist. Es ist also ratsam, mit etwas mehr Inhalt zu beginnen und den Anfang nicht zu

schwierig zu gestalten. Später kann man dann die Übung steigern und sich nur auf die Spitze des Messers konzentrieren.

Aber dazu muß eben schon mehr Kraft aufgebracht werden.

Es ist allerdings auch bei der einfachen Übung, wo man das ganze Taschenmesser in Gedanken umkreist, möglich

abzuschweifen. Wenn man z.B. an das Material denkt, dann stellt man sich das Eisen vor, wie es als Eisenerz aus dem

Bergwerk geholt wird, wie es in Erzadern unter der Erde lagert usw., und man landet dann vielleicht bei der

geologischen Entwicklung der Erde. Dann ist man abgeschweift, obwohl man am Thema geblieben ist: die

Gedankenkontrolle geht verloren. Es kommt immer darauf an, streng an der Sache zu bleiben und genau zu

kontrollieren, was dazugehört und was nicht, was einen vom Thema wegführt und was nicht. Es ist die Kraft der

Konzentration, die bei dieser Übung gesteigert werden soll.

Nun ist zu beachten, daß man diese Übung nicht nur einmalig ausführt, denn dann wird die Wirkung sofort überdeckt

durch alles, was den Tag über gedacht wird, ohne Gedankenkontrolle. Die kräftigende Wirkung tritt erst ein, wenn man

eine Gesetzmäßigkeit berücksichtigt: die Kraft der Wiederholung. Entscheidet man sich, diese Übung nicht nur einmal,

sondern einen Monat, täglich fünf Minuten lang, durchzuführen, dann hat das eine viel stärkere Wirkung; es tritt eine

rhythmische Verstärkung der Fähigkeit zur Gedankenkontrolle ein.

Weiterhin kann folgendes passieren: Man führt die Gedankenkontrolle mehrmals durch, und plötzlich zeigt es sich, daß

die Qualität am Anfang viel besser war als beim zehnten oder elften Mal. Man sollte doch annehmen, daß eine Übung, je

öfter sie getan wird, sich steigert. Das kann hier aber gerade umgekehrt sein. Woran liegt das? Man konzentriert sich

vielleicht beim ersten Mal sehr stark, und dann verläuft die Übung gut; sie ist noch neu und daher interessant. Dieses

erste Interesse aber kann mit der Zeit erlöschen, und jetzt fängt man an, nachlässiger zu werden, unsauberer in der

Gedankenführung usw. Wenn das bemerkt wird, ist schon ein erster Schritt getan, es zu ändern. Denn jetzt muß man

mehr Kraft aufwenden, um die Übung durchzuführen, weil das Neue, das erste Interesse erloschen ist. Dabei tritt eine

weitere wichtige Gesetzmäßigkeit in Erscheinung: Man muß die Übungen um ihrer selbst willen tun, man muß sie

lieben. Nur mit Liebe durchgeführte Übungen werden wirklich fruchtbar sein.

Nun ist es interessant zu verfolgen, wie die Gedankenkontrollübung mit der Rosenkreuzmeditation zusammenhängt.

Inhaltlich gibt es zwischen beiden Übungen keine Bezüge, aber die Kraft, die bei der Gedankenkontrolle aufgewendet

werden muß, um bei der Sache zu bleiben, ist dieselbe Kraft, die auch bis zur höchsten Stufe der Rosenkreuzmeditation

hinführt. Ohne diese Kraft, die im Keim schon bei der Gedankenkontrolle vorhanden ist, wird man die vierte Stufe der

Rosenkreuzmeditation nie erreichen. Deshalb lohnt es sich sehr, auf diesen Aufbau des anthroposophischen Erkenntnisweges

zu achten, denn je besser man die Übung der Gedankenkontrolle beherrscht, um so intensiver wird man auch die

Rosenkreuzmeditation durchführen können.

Eine weitere Frage betrifft die zeitliche Dauer der Rosenkreuzmeditation und der Gedankenkontrollübung, wie

überhaupt jeder Meditation.

Zunächst bestimmt man die Dauer vollkommen selbst, je nachdem, wie es sich für einen einrichten läßt. Generell aber

läßt sich sagen, daß eine Meditation, die nur für eine sehr kurze Zeit, vielleicht eine halbe Minute, durchgeführt wird,

zwar ihre Wirkung haben kann, aber doch nur sehr schwach. Diese kurze Zeitspanne läßt sich aber ausdehnen, bis man

für sich ein inneres Gleichgewicht gefunden hat, denn auf der anderen Seite besteht natürlich auch die Gefahr, daß die

Übungen zu lange dauern. - So geschah es einmal einem jungen Mann, der Schüler Rudolf Steiners war, daß er die

sogenannte <Rückschauübung>, die am Abend durchgeführt wird, zwei Stunden lang versuchte zu tun und dabei mit der

rückwärts verlaufenden Überschau auf den zurückliegenden Tag nur bis zum Abendessen kam. Das erzählte er nun

Rudolf Steiner, worauf dieser erwiderte, daß es sehr ungesund sei, sich mit der Rückschau so lange aufzuhalten; die

Übung lasse sich in höchstens zehn Minuten bewältigen. Der junge Mann fragte, wie er das denn bewerkstelligen solle,

da würde er ja nie bis zum Morgen zurückgehen können, die Rückschau müsse aber doch sehr genau gemacht werden.

Rudolf Steiner schlug ihm nun vor, er solle ein kleines Stück der Rückschau ganz genau ausführen, den Rest dann aber

in einem großen Panoramabogen. Das kleine Stück, das er genau verfolge, würde nach und nach wachsen, und später

könne er dann die gesamte Rückschau in fünf Minuten und zugleich präzise durchführen.

Aus diesem Beispiel läßt sich ersehen, daß es bei der zeitlichen Gestaltung der Meditationen auf ganz praktische,

sachliche Gesichtspunkte ankommt; d.h. man nimmt sich jeweils gerade so viel vor, wie man in einer vernünftigen Zeit

bewältigen kann, strebt dabei aber an, die Intensität nach und nach zu steigern.

Aus: Der Beginn eines Erkenntnisweges von Jörgen Smit, Meditation und Christuserfahrung


Artikels von Zoran Perowanowitsch Buchvorstellung Zitate Biographien Linkhinweise