Kosmischer Christus - Der Atem Gottes

TEIL I

Die Ausatmung des Weltenwortes

Was verändert sich durch die Geburt Christi, dass die Menschen mit der Zeitzählung von vorne beginnen, um zum Ausdruck zu bringen, dass die Geschichte der Erde in eine neue Phase ihrer Evolution eingetreten ist? Offensichtlich ist es ein Ereignis, das nicht nur eine zeitlich regionale Wirkung entfaltet. Dann aber kann es nicht nur von einer Religion für sich beansprucht werden, sondern es müssen auch in anderen religiösen Überlieferungen Hinweise darauf zu finden sein, wenn auch unter anderen Namen, anderen Erzählungen oder Prophezeiungen.

Erwartung

Wenn Rishis, die Heiligen der indischen Vorzeit, zur Sonne schauten, nahmen sie mit deren Licht auch Liebe auf und erfüllten damit ihr Wesen. Dadurch gestaltete sich in ihrer Seele das Bild, dass in dem lebendigen Licht der Sonne ein „Mann“ wohnt, der das Wahre, das Lebensbringende ist. Da sie in ihrem Atem dem göttlichen Rhythmus folgten, erfuhren sie darin das Wirken der Sonnenwesenheit, die mit jedem Atemzug das Innigste des menschlichen Wesens berührte und stärkte. So erkannten sie, dass der geheime Name des „Mannes“, der in der Sonne wohnt, ICH lautet.1
Die Wesenheit, mit der sich die Heiligen im Atemrhythmus eins wussten, nannten sie nach ihrem schöpferischen Aspekt „Vishvakarman“, den Allschaffenden, der den Ursprung der Materie bildet und ihr Architekt ist. Einst werde er sich aus den kosmischen Weiten der Erde nähern und für die Menschen eine Opfertat vollbringen, indem er sich bis in die Elemente hinein mit der Erde verbinden, in die Herzen der Menschen eingehen, das Böse überwinden und das Bewusstsein des ICH erwachen lassen wird. Dieser Vorgang wird in den Hymnen der Rigveda gefeiert, indem sich der Gott Vishvakarman selbst in die Erde umwandelt.2
Rudolf Steiner erkennt in der Gottheit Vishvakarman den Christus, der sich von der Sonne kommend mit der Erde bis in die Elemente hinein verbunden und diese als seinen Leib angenommen hat.
Die Heilige Anna Katharina Emmerich schaut in Visionen, wie das sich Nahen des Christus von unterschiedlichen Weisen auf der Erde erwartet wurde:
„Dieses heiße Verlangen nach dem Heile war aber nirgends so rein, unschuldig, kindlich und treu wie in dem Herzen der lieben heiligen Könige aus dem Morgenland, die Jahrhunderte hindurch in allen ihren Voreltern, glaubend, hoffend und liebend ihm entgegengeharrt hatten.“3
Die Erwartung eines Erlösers, durch den das Göttliche aufleuchtet und der die Wende in der Erdenevolution herbeiführt, beruhte jedoch nicht nur auf Visionen, sondern auch auf dem Wissen um die Entsprechung zwischen Mikro- und Makrokosmos.

Wie oben, so auch unten

Der gegenwärtige Mensch atmet ein und aus, meist ohne damit ein Erleben zu verbinden. Eine in achtsamer Hingabe lebende Seele begleitet den Atemstrom in seinen zwei polaren Bewegungen, der Ein- und Ausatmung. Die dazwischen liegenden Wendepunkte bilden zwei große „Tore“. Mit der Zeit können wir zwei weiterer kleinerer Übergänge inmitten der Aus- und Einatmung gewahr werden. Diese vier von uns rythmisch durchlebten Atemphasen finden ihre kosmische Entsprechung in der Atmung der Erde, die in den christlichen Jahresfesten zum Ausdruck kommt.

1 Größte Einatmung- Weihnachten
2. Mitte der Ausatmung- Ostern
3. Größte Ausatmung - Johanni
4. Mitte der Einatmung- Michaeli

Den Atmungsprozess und dessen makrokosmische Entsprechung erleben wir zunächst durch die Luftatmung. Mit gesteigerter Hingabe geht eine Veränderung der Wahrnehmung einher, wodurch die Luftatmung als der physisch erlebbare Prozess einer Licht- oder Herzatmung erkannt wird.
Das Christuslicht, das Göttliche ICH, ergießt sich aus dem Herzen in der Ausatmung über die leiblichen Grenzen hinaus, leuchtet schließlich im Äußeren auf, wird zum DU und strömt wiederum in der Einatmung zum Herzensgrund hin.

1. Größte Ausatmung - Aufleuchten des ICH im DU
2. Größte Einatmung - Aufleuchten des ICH im Quellgrund des Herzens
So vollziehen wir in jedem Atemzug den immerwährenden makrokosmischen Schöpfungsakt, den Novalis in der Dichtung „Geistliche Lieder“ wiedergibt:

Göttliche Ausatmung:

Er ist der Stern, er ist die Sonn',
Er ist des ewgen Lebens Bronn ...

Geuß, Vater, ihn gewaltig aus,
gieb ihn aus deinem Arm heraus …

Treib ihn von dir in unsern Arm,
daß er von deinem Hauch noch warm.

Aufleuchten des ICH im DU:

In allen Dingen sein kindlich Thun …
Aus Kraut und Stein und Meer und Licht
Schimmert sein kindlich Angesicht.

Aufleuchten des ICH im Quellgrund des Herzens:

Er schmiegt sich seiner unbewußt
Unendlich fest an jede Brust.

Vielfach befällt uns in der Meditation Unsicherheit darüber, ob die damit verbundenen Einblicke in die geistige Welt auf Illusionen beruhen. Wir sollten allen Erfahrungen übersinnlicher Art gegenüber nüchtern bleiben, denn zu leicht irren wir. Dennoch können wir unsere Schritte mit Gewissheit setzen, wenn wir dem lichten Atemstrom folgen. So stellt Rudolf Steiner fest: „Aller Weg in die geistige Welt geht durchs Herz. Das Herz ist der Mittelpunkt der geistigen Bewegung. Das Gehirn der Mittelpunkt der intellektuellen Bewegung. Man kann während der Meditation fühlen, wie von jedem Punkte des äußeren physischen Leibes Kraftströmungen gehen nach einem Mittelpunkte. Dieser ist das Herz. Im weiteren Verlauf gehen diese Strömungen nach der entgegengesetzten Richtung hinaus über die Hautgrenze und hinein in die geistige Welt. Das ist das Fühlen des Christus in sich. Und das ist zugleich ein Zeichen, daß keine Täuschung vorliegt.“4
Eine weitere Erkenntnis liegt darin, dass eine Entsprechung vom Herzen zur Sonne besteht, indem beide aus dem gleichen „Stoff“ Feuer und Licht gewoben sind. Sie entsprechen sich nicht nur, sondern sind durch ein in ihrer Mitte dimensionsloses Zentrum unmittelbar miteinander verbunden.
Aus der Erfahrung der Entsprechung von Oben und Unten wussten die Weisen, dass sich bei der größten Göttlichen Ausatmung, der größten Gottesferne und Dunkelheit die Geburt des ICH auf Erden vollziehen wird. Sie sahen, dass das ICH im DU in einem Menschen, dem „Erstgeborenen“, aufleuchten wird, um die kosmische Wende von der Göttlichen Aus- zur Einatmung zu vollziehen und so die Trennung der Schöpfung von ihrem Urgrund zu überwinden. Dieser Erlösungsprozess wird durch den Tod und die Auferstehung Christi eingeleitet: „Die Stunde ist gekommen, dass der Menschensohn verherrlicht werde. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht.“ (Joh 12,24)
Das Anliegen einer inneren Entwicklung ist es, im Einklang mit dem Göttlichen Willen, dem Atem Gottes zu stehen. Mit der Anthroposophie gab Rudolf Steiner den Menschen einen Weg, sich immer mehr mit diesem Fluss des Werdens zu verbinden. Denn Christus hat sich nicht nur mit der Erde verbunden, sondern auch mit deren Schicksal, indem Er aus freiem Willen die Kreuzigung inmitten der Erde auf sich nahm. Christus ist kein Göttliches Wesen, das von uns fordert, sich vor Ihm zu beugen. Vielmehr hat Er sich an uns und die Erde im Vertrauen hingegeben, durch uns vom Kreuz der Materie erlöst zu werden. Darum braucht Christus nicht nur Gläubige und Studierende, sondern durch innere Wandlung Werdende, um die Erlösung der Schöpfung gemeinsam zu vollbringen.
Fußt die Seelenentwicklung auf einem gesunden Boden, kann man im Geiste Geschautes im Physischen abgebildet erkennen. Wenn die Schau der Aus- und Einatmung des Göttlichen in Christus, wie sie in diesem Teil aufgezeigt wird, seine Richtigkeit hat, dann muss dies in seinen Auswirkungen auf unser Leben erkennbar sein. Dies soll in einem folgenden zweiten Teil behandelt werden.

Anmerkungen:

1 Walter Ruben, Beginn der Philosophie in Indien, Berlin 1955, S. 158 f.
2 Rigveda X, 81/82.
3 Anna Katharina Emmerich, Leben der heiligen Jungfrau Maria, Augsburg 1989, S. 258.
4 GA 266b, S. 74

Von Zoran Perowanowitsch sind Bücher im Verlag www.kitesh.de erschienen.

Neuerscheinung 2022: „Die Wolke des Nichtwissens“, Übertragung aus dem Mittelenglischen mit Erläuterung aller Briefe.

Der Atem Gottes II Wissenschaft Zitate Artikel von Zoran Perowanowitsch