Der Begriff der "Leere"

Patriarch Hui Neng

In dem Gleichnis des buddhistischen Patriarchen (Hui Neng) finden wir das was der Osten unter dem Begriff der „Leere“ versteht anschaulich dargestellt: „Wenn ihr mich von der Leere sprechen hört, so lasst euch nicht zu der Auffassung verleiten, dass ich die Leerheit (eines bloßen Vakuums) meine. Es ist von größter Wichtigkeit, dass wir nicht einer solchen Auffassung verfallen; denn wenn beispielweise ein Mann dasitzt und seinen Geist völlig leer hält, so würde er nur in einem Zustand der Leere im Sinne völliger Gleichgültigkeit oder Indifferenz verharren. Die unendliche Leere des Universums aber ist fähig, Myriaden von Dingen verschiedenster Form und Gestalt zu bergen: Sonne und Mond, Sterne und Welten; Berge, Flüsse, Bäche und Quellen; Wälder und Sträucher; gute Menschen und schlechte Menschen; Gesetzmäßigkeit im Guten wie im Schlechten; himmlische und höllische Welten; die tiefsten Weltmeere und die höchsten Berge. Der Raum umfasst alle diese, und in gleicher Weise tut dies die ,Leere’ unserer eigenen Natur. Wir sagen, dass das wahre Wesen unseres Geistes groß ist, weil es alle Dinge umfasst, weil alle Dinge in unserer Natur beschlossen liegen.“

Lama Anagarika Govinda, Grundlagen tibetischer Mystik, München 1975, S. 133 f.

Zoran Perowanowitsch

In Indien entwickelte sich aus der inneren Erfahrung der „Leere“, die als dem Sein zugrundeliegend erkannt und im Symbol des Kreises ausgedrückt wurde, der mathematische Begriff der „Null“, deren Sanskritname „Sunya“ ist; sie wird ebenfalls wie die „Leere“ durch den Kreis dargestellt und liegt den Zahlen, welche durch sie erst ihren Wert erhalten, zugrunde. Die Vorstellung von „Sunya“ gelangte über die arabische Welt nach Europa und wurde unter dem lateinischen Namen der „Null“, was „Nichts“ bedeutet bekannt. Dies war die Voraussetzung für die moderne Mathematik, die sich zwischen der Null und der Unendlichkeit entfaltete und damit wiederum den Kreis beschloss.

Angelus Silesius

Der christliche Mystiker Angelus Silesius drückt dieses Erleben in folgenden Worten aus:

Gott ist lauter Nichts,
ihn rührt kein Nun noch Hier;
Je mehr du nach ihm greifst,
je mehr entwird er dir.

oder:

Wem Nichts wie Alles ist und Alles wie ein Nichts,
Der wird gewürdiget des liebsten Angesichts.

Briefe eines anonymen englischen Mystikers des 14. Jahrhunderts an seinen Schüler "Die Wolke des Nichtwissens"

„Nimm keine Rücksicht darauf, dass deine Sinne nichts mit diesem Nichts anfangen können, denn ich liebe es um so mehr. Es ist nämlich von so unendlichem Wert, dass sie nichts davon begreifen können. Dieses Nichts kann eher erfahren als gesehen werden, denn es ist ganz unendlich und dunkel für jene, die nur kurz darauf geblickt haben. Die Seele, die es fühlt, wird jedoch, um es noch treffender zu sagen, eher von dem Überfluss an geistigem Licht geblendet, als dass sie sehunfähig wäre durch die Dunkelheit oder einen Mangel an wirklichem Licht. Wer nimmt sich heraus, es das Nichts zu nennen? Sicher unser äußerlicher Mensch, nicht unser innerer; unser innerer nennt es das All, denn es hat ihn gelehrt, alles Existierende, sei es körperlich oder geistig, zu erkennen, ohne irgendein Ding oder Wesen für sich gesondert zu betrachten.“

Die Wolke des Nichtwissens, Christliche Meister Band 8, Einsiedeln 1980, S. 146.

Rudolf Steiner

Rudolf Steiner fordert den nach Erkenntnis der geistigen Welten Suchenden zum Erleben eines Punktes auf, „der alles enthält, und aus dem alles hervorquillt, der nichts und alles ist, der die Einheit von Sein und Kraft enthält. Es gehört zu den Geheimnissen“, betont Rudolf Steiner, „sich hineinzuversetzen in einen solchen Zustand, dass man erleben kann, wie aus dem Nichts das All entspringt…“

Ernst Bindel, Die geistigen Grundlagen der Zahlen, Frankfurt am Main, 1983, S.14.

Meister Eckehart

Meister Eckehart strebt nach der Entwerdung seiner Person, indem er sich völlig leer zu machen sucht (sich lassen), um das Göttliche, das er als „reines Nichts“ (ein bloß nicht) versteht, zu erfahren.
Meister Eckehart bezeichnet diesen Bewusstseinszustand in seinen Predigten als „Jungfrau“, die so viel besagt wie ein Mensch, der von allen fremden Bildern ledig ist, so ledig, wie er war, da er noch nicht war.“

Meister Eckhart, Deutsche Predigten und Traktate, München 1979, S. 159.


Artikel von Zoran Perowanowitsch Wissenschaft Zitate