Zwischen Freiheit und Schicksal

Die Bedeutung des Augenblicks


Die Frage, inwieweit wir frei sind, unser Schicksal selbst zu bestimmen oder zumindest zu beeinflussen, wird uns auch nach Jahren meditativen Lebens begleiten. Sind die aufeinander folgenden Momente dem Zufall unterworfen oder gar als „Orte“ bereits vorgegeben? Mit der Zeit wird immer deutlicher, dass unsere innere Entwicklung ab einem bestimmten Zeitpunkt wesentlich davon bestimmt wird, wie wir diese Frage für uns beantworten.

Die Vergänglichkeit

Nichts deutet darauf hin, dass es eine Möglichkeit gibt, die Gesetzmäßigkeit des Geborenwerdens und Sterbens zu durchbrechen. Und doch empfinden wir einen Widerwillen gegenüber dieser Tatsache. Dieser drückt sich durch die Art aus, wie wir über das Altern sprechen und versuchen, es solange wie möglich hinauszuzögern.

Ich kann mich nicht erinnern, in meiner Jugend eine solche Haltung bei den Älteren wahrgenommen zu haben. Zum Traditionsstrom gehörte auch die Unausweichlichkeit des Todes. Kinder können die Vergänglichkeit als Ende ihrer Existenz nicht begreifen. So äußerte sich ein Mädchen mir gegenüber empört, der Tod sei eine Unverschämtheit. Ich war überrascht, eine solche Aussage bereits von einem neunjährigen Kind zu hören, hatte ich doch geglaubt, dies sei die Haltung der heutigen Erwachsenen. Doch das Kind brachte auf seine Weise zum Ausdruck, was der Mensch als Ahnung in sich trägt, dass der Tod eine Verletzung seiner Freiheit und Würde darstellt. Diese Ahnung kann durch vielfältige Enttäuschungen und Ohnmachtsgefühle gegenüber dem Schicksal überlagert werden, jedoch im Laufe des Lebens wieder erwachen und uns, einer Sehnsucht folgend, zur Meditationspraxis führen.

Obwohl mit diesem Entschluss nach Rudolf Steiner die einzige wirklich völlig freie Handlung im menschlichen Leben vollzogen wird1, neigen wir dazu, unsere alltägliche Erfahrung in Bezug auf die irdische Welt auf die spirituelle Ebene zu übertragen. Wie wir auf Erden nur durch das Zurücklegen eines Weges zum Ziel gelangen, durch Anhäufen von Geld reich werden, durch die Vermehrung unseres Wissens als klug oder weise gelten, so messen wir den Fortschritt unserer spirituellen Entwicklung an der Zahl der Visionen und erworbenen übersinnlichen Fähigkeiten. Eine solche Sichtweise bleibt jedoch zwangsläufig egozentrisch und bindet unser Bewusstsein an den physischen Körper und seine Vergänglichkeit. So sind die ersten Schritte auf unserem meditativen Weg, obwohl aus Freiheit geboren, von Denkgewohnheiten geprägt, die aus dem Strom des Gewordenen kommen, der durch all unsere bereits vollzogenen Entscheidungen entstanden ist.

Das zu Werdende

Mit zunehmender innerer Stille beginnt sich etwas Neues auf den Strom des Gewordenen zuzubewegen, das wir als die Quelle unserer Sehnsucht erkennen. Es kommt gleichsam aus der Zukunft, dem zu Werdenden auf uns zu und wirkt durch die keimende Kraft der Idee lenkend auf den vorwärtsdrängenden Strom des Gewordenen ein. Wir erkennen zwei sich überlagernden Ströme, deren Schnittmenge den Augenblick, die Gegenwart bildet. So spricht Rudolf Steiner davon, dass jede Zeitperiode der Durchschnitt zweier Ströme sei, von denen der eine aus der Zukunft in die Gegenwart und der andere aus der Gegenwart in die Zukunft fließe.2

Die Sichtweise, dass die Gegenwart sowohl aus der Vergangenheit als auch der Zukunft hervorgeht, ist dem linearen Erleben fremd. So fordern selbst verschiedene meditative Schulen den Übenden auf, seine Aufmerksamkeit nur auf die Gegenwart zu richten, da diese die einzige Wirklichkeit sei. Solche Aussagen beziehen sich auf die Anweisung Buddhas, sich nur der Gegenwart zuzuwenden, da das Gewesene vergangen und das Zukünftige noch nicht sei. Dies darf jedoch nicht absolut verstanden werden. Vielmehr drückt sich darin die Weisheit Buddhas aus, einerseits dem linear denkenden Geist entgegenzukommen und andererseits seinem unruhig zwischen den Zeiten springenden Vorstellungsleben Einhalt zu gebieten.

In der Sage vom „Zauberer Merlin“ wird die Bedeutung des zu Werdenden deutlich. So erhält Merlin als Kind vom Teufel die Fähigkeit, alles über Vergangenheit und Gegenwart zu wissen. Von Christus bekommt Merlin aber zusätzlich die Gabe, die Zukunft, den Strom des zu Werdenden, zu kennen. Dadurch wird es ihm möglich, sich von den Verführungen des Teufels zu befreien.

Durch diese zweite Gabe gewinnen wir die Erkenntnis, dass wir den gegenwärtigen Augenblick, der durch die in der Vergangenheit getroffenen Entscheidungen bestimmt ist, nicht verändern oder ihm entfliehen können. So liegt unsere Freiheit darin, den gegenwärtigen „Ort“ in Verantwortung anzunehmen, was gleichsam den Boden, auf den wir stehen, bildet. Auf diese Weise gut verankert, vermag sich die Seele zu weiten und für in die Zukunft weisende Ideen zu öffnen, was befruchtend auf den zur Gerinnung strebenden Vergangenheitsstrom wirkt. In dieser inneren Haltung liegt die Kraft und Möglichkeit, den nächsten Augenblick mitzugestalten. Tun wir das nicht in persönlicher, willkürlicher Art, sondern im Einklang mit der die Welt durchflutenden Weisheit, offenbart sich Freiheit. Gleichzeitig erkennen wir, dass wir von Natur aus bereits das zu Werdende sind, es als Menschen in der Zeit jedoch erst wieder gewinnen müssen.

Durch die Identifikation mit dem vergänglichen Körper erleben wir die Zeit als einen aus Erinnerung an Gewesenes und Vorstellung des Kommenden erst entstehenden Strom. Auf der seelisch-geistigen Ebene durchwandern wir jedoch „Orte“, die im geistigen „Raum“ gleichberechtigt nebeneinander stehen. So beschreibt Rudolf Steiner: „In dem Augenblick, wo der Mensch in seinen neuen physischen Körper eintritt, geschieht etwas Analoges zu dem Augenblick, wo er ihn verlässt. In diesem Augenblick hat der Mensch dann eine Art Vorschau auf sein künftiges Leben, wie er im Augenblick des Todes eine Rückschau auf sein vergangenes Leben hatte“3

Das neue Herz

Die christlichen Weisen wussten um die Quelle dieser beiden Zeitströme, deren Überschneidung wir als Gegenwart erfahren. Dieses Wissen und ihr Bezug zum menschlichen Herzen wurde Jahrhunderte lang in Schriften und Symbolen überliefert, die dann in dem Buch „Geheime Figuren der Rosenkreuzer“ zusammengefasst wurden:

Alles, was in der großen Welt ist,
das ist auch im Menschen,
denn er ist daraus geschaffen,
darum ist er die kleine Welt,
und hat alles in der Mitte seines Herzens.
Das merke wohl.

Um dieses Wissen verständlicher zu machen, wurde ein Bild hinzugefügt, das die verschiedenen Phasen der inneren Entwicklung der Seele zeigt, die durchlaufen werden müssen, um an dieser Mitte des Herzens teilzuhaben.

Wenn wir es vermögen die ausschließliche Identifikation unseres Wesens mit dem physischen Leib zu überwinden, werden wir von einer tiefen Stille erfüllt, aus der uns die Wahrnehmung eines neuen Herzens zukommt, das den physischen Sinnen nicht zugänglich ist, und seinen Sitz an der Stelle unserer Brust hat, die wir berühren, wenn wir „Ich“ sagen. Die äußere Form und die rote Farbe der obigen Abbildung stellen das physische Herz der „Alten Creatur“ dar. Die inneren Kreise stehen für die Vorgänge im Herzen der „Neuen Creatur“ und für den Weg der Seele zur Mitte des neuen Herzens. Es wäre jedoch nicht richtig anzunehmen, dass es sich hierbei um das Herzchakra der hinduistischen Lehre handelt. Vielmehr ist das „Neue Herz“ ein „Organ“, das sich erst offenbart, wenn die einzelnen Chakren keinen Widerstand mehr bieten, sodass wir gleichsam wie im „Sprung“ vom Grund des Beckens aus das siebte Chakra erreichen. Dieses wird in der Chakrenlehre als Sitz des Göttlichen bezeichnet und der Yogi, der es erreicht, als „Erleuchteter“, da er in der Vereinigung mit dem Göttlichen das letzte Ziel verwirklicht. In Bezug auf das „Neue Herz“ ist das siebte Chakra jedoch erst die Voraussetzung, um im weiteren Verlauf der spirituellen Entwicklung durch Hingabe in das Zentrum des Neuen Herzens „hinabzusteigen“. Die Hingabefähigkeit unserer Seele folgt der großen Stille, die nicht durch die Abwesenheit von Lärm, sondern durch die Abwesenheit von innerer Unruhe entsteht. Sie erwächst uns aus der unmittelbaren Erfahrung unseres Seins, das uns so nahe ist, dass wir es im Alltag wie der Fisch das Wasser nicht wahrzunehmen vermögen.

Darauf weist der Verfasser der “Wolke des Nichtwissens”, ein christliches Mystiker, hin, indem er in einem Brief an seinen jungen Schüler schreibt: “erwäge auf schlichte Weise...nicht was du selbst bist, sondern dass du bist.”4 In ähnlicher Weise antwortete der indische Heilige Sri Ramana Maharshi auf die Frage eines Besuchers: „Du sagst „ich“ und sagst doch, du weißt nicht um das „ich“. Kann einer nicht um sich selber wissen? Ist das nicht zum Lachen unmöglich?“5

Im Bild sehen wir in der Mitte des Herzens einen „Punct“, der in seiner Dimensionslosigkeit symbolisch das Tor zu Gott Vater darstellt. Dieser „Punct“ ist wiederum von einem Flammenring umgeben, der für den Sohn Christus steht. Der äußere Sternenring umgibt das neue Herz und steht für die Sternensphäre, die Astralsphäre, die wir mit dem Durchschreiten des siebten Chakras, auch „Tausendblättriger Lotos“ genannt, verwirklichen. Diese Sphäre, das Bewusstsein als Geist, ist zugleich der „Stoff“, aus den alles geworden ist. Doch mit der Verwirklichung dieser Sphäre jenseits unserer Körperlichkeit, jenseits der elementaren Welt, verwirklichen wir noch nicht das Göttliche SELBST.

Sein im Werden

Meditation führt zumindest zeitweise zur Abwesenheit unserer Seelenregungen, was als „Leere“ erfahren wird. In dieser Stille können wir wahrnehmen, wie die Luftatmung von einem Licht erfüllt wird, das aus dem „Pumct“, der Mitte unseres neusen Herzens, strömt Dadurch wird die Aussage im Bild verständlich: „Diese Schrift muß von Innen heraus und von Aussen hinein verstanden werden“. Folgen wir diesem Atmungsprozess, so gelangen wir zu unserer Ausgangsfrage nach Bestimmung und Freiheit des Menschen und der Natur der Gegenwart.

Aus der Mitte unseres neuen Herzens, dem „Punct“, vollzieht sich der kosmische Atem. Mit jedem Ausatmen offenbart sich der Vater im Sohn Christus und strömt als fließendes Licht von innen nach außen. Jenseits von Raum und Zeit, geleitet von unendlicher Weisheit, umhüllt Christus jeden „Ort“, dessen Qualität durch unsere Entscheidungen immer wieder neu bestimmt wird. „Von Aussen nach Innen“ folgt das Einatmen des Herzens zu Gott Vater, welches wiederum den Grund für das nächste Ausatmen legt und damit für die Bildung all der neuen „Orte“, die wir als unsere Augenblicke der Gegenwart durchschreiten. So vollzieht sich in der Ausatmung durch Christus der Schöpfungsakt in jedem Augenblick neu.

Wenn nur der kosmische Ur-Atem walten würde, wäre die Schöpfung einer Maschine gleich und jeder „Ort“, ohne die Möglichkeit freier Entscheidungen, für die Ewigkeit bestimmt. Je mehr es uns gelingt, im Einklang mit der Schöpfung zu leben, desto mehr haben wir Anteil an diesem Atem des Herzens, weil wir in unserem SELBST in Christus mit allen Menschen in diesem Atemstrom verbunden sind.

Schöpfung ist somit ein multidimensionaler dynamischer Prozess der Integration des Seins im Werden, der durch unser Handeln, Denken und Fühlen von Augenblick zu Augenblick in ständiger Veränderung begriffen ist. So können wir die Aussage des Mystikers Jakob Böhme, dass der Vater den Sohn, das Licht der Welt, unaufhörlich gebiert, verstehen.6 Somit erkennt Böhme in der Tiefe des Herzens, dem Urquell allen Lebens, die Geburt des Sohnes, der aus der Liebe hervorgeht.7

Aus unserer Sicht erleben wir Makrokosmos und Mikrokosmos als zwei verschiedene Ebenen des Seins. Im Grunde aber sind sie in jedem Augenblick eins, so dass der christliche Mystiker Angelus Silesius in seinem „Cherubinischen Wandersmann“ sagen kann: „Ich weiß, ohne mich kann Gott keinen Augenblick leben: Wäre ich nichts, so müsste er vor Gram den Geist aufgeben.“ So existieren scheinbar widersprüchliche Zustände wie auch Vorherbestimmung und Freiheit gleichzeitig. Jeder Augenblick ist einerseits Ausdruck des Gewesenen und andererseits eine Neuschöpfung, so dass Goethe zu der Erkenntnis gelangt8:

Genieße mäßig Füll und Segen,

Vernunft sei überall zugegen,

Wo Leben sich des Lebens freut.

Dann ist Vergangenheit beständig,

Das Künftige voraus lebendig,

Der Augenblick ist Ewigkeit.

Goethe ist sich darüber bewusst, dass jeder Augenblick wie ein einzigartiger Edelstein in der Schatzkammer der Ewigkeit ruht. Auch Rudolf Steiner beschreibt das Verhältnis von Augenblick zur Ewigkeit: „Und wie hinter unserer Sinneswelt das Geisterland selber für das gewöhnliche sinnliche Wahrnehmen verborgen ist, so ist hinter dem Augenblicke das Ewige verborgen. Und wie man nirgends sagen kann, da hört die Sinneswelt auf, und da beginnt die geistige Welt, sondern wie überall die geistige Welt das Sinnensein durchdringt, so durchdringt jeden Augenblick ihrer Qualität nach die Ewigkeit. Man erlebt nicht die Ewigkeit, wenn man hinauskommt aus der Zeit, sondern wenn man im Augenblick selber die Ewigkeit hellseherisch erleben kann. Sie ist im Augenblick selber garantiert, denn sie steckt in jedem Augenblick drinnen.“9

So erinnern wir uns an die Vergangenheit nicht nur durch unser Gedächtnis und haben ein Bild von der Zukunft nicht nur durch unsere Vorstellungskraft, sondern wir wissen um beide, weil sie nicht der Vergänglichkeit unterworfen sind.

Unser Leben gleicht auf der physischen Ebene im Erleben der vorüberziehenden Augenblicke einem unser Zeitempfinden bestimmenden Fluss. Auf dieser Ebene unseres Seins sind wir unfrei, denn hier drückt sich unser Schicksal aus, das wir uns selbst in Freiheit gewoben haben. Die leibfreie Seele dagegen durchwandert die gleichberechtigten gegebenen „Orte“ in ihrer Qualität, ohne sich in Raum und Zeit zu bewegen, so dass der christliche Mystiker Meister Eckhart in seiner 11. Predigt feststellen kann: „Wo die Seele in ihrem natürlichen Tage ist, da erkennt sie alle Dinge über Zeit und Raum; kein Ding ist ihr (da) fern oder nah. Darum habe ich gesagt, dass alle Dinge gleich Edel seien in diesem Tage. Würden wir sagen, dass Gott die Welt gestern oder morgen erschüfe, so würden wir uns töricht verhalten. Gott erschafft die Welt und alle Dinge in einem gegenwärtigen Nun, und die Zeit, die da vergangen ist vor tausend Jahren, die ist Gott jetzt ebenso gegenwärtig und ebenso nahe wie die Zeit, die jetzt ist.“

Doch zunächst müssen wir den schmerzhaften Prozess der Ablösung der Seele von der Gebundenheit an die materielle Welt durchleben, um sich dann dem Zentrum des neuen Herzens zuzuwenden, indem sich das Ich in Christus erkennt.


Anmerkungen:

1 GA 214, S. 126f.
2 GA 324a, S. 37f.
3 GA 100, S.100
4 Zoran Perowanowitsch (Hrsg.): Die Wolke des Nichtwissens, Folge der Liebesregung deines Herzens, Ein christlicher Meditationsweg, mit Erläuterung aller Briefe, Sölden 2022, S. 241.
5 Heinrich Zimmer, Der Weg zum Selbst, Köln 1984, S.94.
6 Jakob Böhme, Aurora oder Morgenrötte im Aufgang, Kap 1.6.
7 ebd.
8 Goethe, Das Vermächtnis.
9 GA 138, S. 95f.


Artikel von Zoran Perowanowitsch Buchvorstellung