Kitesh Verlag

Der Weg eines Mystikers, aufgezeigt anhand des Neuen Testaments


Als ich mich vor Jahren auf einen Pilgerweg begab, bewegte mich die Frage: Wie könnte ein zeitgemäßes Christentum aussehen?
Der katholische und evangelische Theologe Karl Rahner und Jörg Zink beantworten diese Frage, indem sie den Frommen von Morgen als einen verstehen, der wie ein Mystiker die unmittelbare Erfahrung des Göttlichen anstrebt.
Die Überlieferungen des Neuen Testaments sind für den Mystiker nicht nur geschichtliche Zeugnisse, sondern einzelne Schritte auf dem Weg einer spirituellen Entwicklung vor die Menschheit gestellt. Durch Generationen haben wir diese Bilder wie Keime in uns aufgenommen, sodass sie nun, da die Zeit reif ist, aufzugehen beginnen.
So gut ich es vermag, möchte ich eine Wegbeschreibung aufzeigen, wie wir sie uns aneignen, bevor wir die ersten Schritte auf einem Wanderweg setzen, und die einzelnen Aussagen im Neuen Testament als orientierende Wegmarken hinzufügen.

1. Heilige Drei Könige und Hirten

Für welchen inneren Weg wir uns auch der Veranlagung nach entscheiden, er wird von zwei Grundkräften unserer Seele bestimmt, der Aufmerksamkeit und der Hingabe. Diese sind uns im Neuen Testament durch die Erzählung von den Weisen aus dem Morgenland, den Heiligen Drei Könige und den Hirten wiedergegeben.
Gehen wir den Weg der Könige, die ihren Blick erheben, um die Zeichen des Himmels zu verstehen, so suchen wir die Erweiterung unserer Seelenfähigkeiten durch die Geisteskraft der Aufmerksamkeit. Wir studieren mystische Texte von Menschen, die uns vorangegangen sind und vom inneren Weg der Seele zu berichten wissen. Zunächst werden wir durch unsere Erkenntniskraft vorwärts gedrängt, erfahren jedoch mit der Zeit die Grenze ihrer Möglichkeit und gehen in eine meditierende Haltung über; diese lehrt uns schließlich, in Demut hingegeben und vertrauensvoll der Weisheit des Lebens, dem Stern zur Krippe zu folgen.
Auf dem Weg der Hirten mit ihrer Seelenfähigkeit der liebenden Hingabe wird unsere Seele durch die Erzählungen religiöser Texte erwärmt. Verweilen wir in dieser selbstlosen Stimmung, so werden wir wie die Hirten durch das Licht der Engel erleuchtet und erkennen den inneren Weg zur Krippe.
Für welchen Weg wir uns am Anfang auch entscheiden, schließlich werden sich Aufmerksamkeit und Hingabe harmonisch in der Seelenhaltung der Kontemplation ergänzen, sodass wir vor der Krippe staunend, dem Wunder der jungfräulichen Geburt hingegeben, knien.

2.Kontemplation

Eine solche in sich ausgeglichene Seele ist in der Lage über ihre Gedanken, Gefühle und Handlungen hingegeben zu wachen, und verlangt schließlich nichts mehr für sich. Das zuvor gesprochene Gebet wandelt sich zum stillen Gebet, sodass sich die Forderung Christi erfüllt: „Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern wie die Heiden; denn sie meinen, sie werden erhört, wenn sie viele Worte machen“ (Mt 6,7).
Bereits Theresa von Avila weist darauf hin, dass wir, um eine solche Wandlung zu vollziehen, uns nicht von der Welt absondern müssen: „Unter ‚Loslassen‘ verstehe ich nicht ins Kloster gehen, denn dafür können Hindernisse bestehen, und eine vollkommene Seele kann überall losgelöst und demütig sein.“1
Kontemplation ist gegenwärtiges Gebet, sodass sich das in sich ruhende Bewusst-Sein eines jeden Augenblicks gewahr wird. Auf diese Weise begegnen wir der Sorge eines über Jahrhunderte hin unbekannt gebliebenen christlichen Mystikers: „ich möchte deutlich machen, wie wichtig es auf dem inneren Weg ist, sich einer jede Seelen- oder Gedankenregung gegenwärtig zu sein, um darüber zu entscheiden, ob sie dir hilfreich oder hinderlich sei … Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand, dessen Leben mit Hilfe der Gnade vom Bemühen, auf die Zeit zu achten, durchdrungen ist, nicht in Gemeinschaft mit Jesus, Seiner reinen Mutter, den Engeln und Heiligen sein könne“.2
Eine solche Haltung erfordert einen hohen Grad an Freiheit und Wahrheitsliebe uns selbst gegenüber. Dabei geht es nicht um ein intellektuelles Betrachten, sondern um ein reines unmittelbares Schauen aller Vorgänge, seien sie innerlich oder äußerlich, geistiger, seelischer oder körperlicher Art. Wir wenden uns dem Guten und Wahren zu, unabhängig davon, ob es unserem Eigeninteresse nützt oder widerspricht.
Die Evangelien berichten weder weiter von den Weisen aus dem Morgenland, noch von den Hirten, denn ihr Weg endet vor der Krippe. Auch der Weg, den wir aus unserer Kraft, unserem Willen heraus zurückgelegt haben, indem wir dem der Weisen und Hirten folgten, um vor dem Geheimnis der Geburt des Kindes zu stehen, findet in der Kontemplation sein Ende. Obwohl unser Eigenwille notwendigerweise weiterhin in bestimmten Situationen unseren Alltag bestimmen wird, erhält er in Bezug auf die weitere spirituelle Entwicklung keine Impulse mehr, da die Seele von einer solchen Selbstlosigkeit erfüllt ist, dass sie nichts mehr für sich verlangt. In liebevoll achtsamer Hingabe fassen wir das Wahrgenommene weniger in Begriffe, sondern lassen es schauend über sich selbst sprechen. Eine solche kontemplative Haltung leitet eine neue Phase des inneren Lebens ein, wodurch eigentlich erst der Weg eines Mystikers beginnt.

3. Wasser-Taufe

Kontemplation ist Hingabe an den Göttlichen Willen, die im Leben waltende Weisheit. Wird uns Gnade zuteil, erfahren wir auf der nächsten Stufe der Wandlung die „Wassertaufe“, von der uns im Neuen Testament erzählt wird:
„Und als Jesus getauft war, stieg er alsbald herauf aus dem Wasser. Und siehe, da tat sich ihm der Himmel auf, und er sah den Geist Gottes wie eine Taube herabfahren und über sich kommen“ (Mt 3,16).
Auf dem inneren Weg des stillen Gebets erlangen wir die Einsicht, dass sich in allen Offenbarungen der Geist Gottes einerseits in einem irdischen und andererseits himmlischen Aspekt manifestiert.
Der Begriff „Seele“ trägt in sich die sprachliche Entsprechung zu „der See“ und „die See“.
Je mehr uns die innere Haltung der Kontemplation erfüllt, entfaltet sich in uns Stille und Weite, die der Oberfläche eines klaren ruhenden Sees gleicht. Wie der äußere Raum in seinem Sein alle Dinge zu beinhalten vermag, da er selbst leer aller Eigenschaften ist, so auch die Seele als Bewusst-Sein. Solange wir uns jedoch ausschließlich mit dem physischen Körper identifizieren, erfahren wir das Bewusst-Sein nicht unmittelbar, sondern in seinem irdischen Aspekt als einen sich stetig vollziehenden Prozess der Bewusstwerdung.
Im Bild „die See“, des Meeres wird der himmlische Aspekt der Seele angesprochen, der durch die „Himmlische Jungfrau Maria“ dargestellt wird.
„Maria“ ist die lateinische Form des hebräischen Namens „Mirjam“. Die Bedeutung von „Maria“ ist „Meere“ die Silbe „jam“ am Ende von „Mirjam“ steht ebenfalls für das Meer. Dieses Bewusst-Sein der ursprünglichen Reinheit der Seele sucht der Mystiker auf seinem meditativen Weg zu verwirklichen, indem er die Forderung zu erfüllen sucht: „Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen“ (Mt 18,3).
Unser gewöhnliches Ichbewusstsein erfahren wir im Haupt. Ist die Seele bis zu einem gewissen Grade geläutert, vermag sie sich aus dieser Gebundenheit zu lösen und am Grund des „Beckens“ ihre „Wasser-Taufe“ zu durchleben, wie es auch im Psalm 131 festgestellt wird: „Wie ein kleines Kind bei seiner Mutter, so ist meine Seele in mir“. Das neugeborene Seelenkind lebt nicht in der irdischen Polarität von männlich und weiblich, sodass sich über ihm die blaue „Himmelspforte“ öffnet. In diesem Augenblick erfährt die Seele die „Himmelfahrt“ und erweitert sich, jenseits von Raum und Zeit zum blauen, von Sternenfunkeln durchdrungenen Bewusst-Sein. Wenn wir aus dieser Erfahrung die Darstellungen Marias mit dem blauen, sternenbesetzten Mantel betrachten, dann verstehen wir, dass die christlichen Künstler diese Erfahrung dargestellt haben. Die Seele erfährt sich in diesem Zustand als reines Bewusst-Sein, als reiner Geist, einem Meer gleich. Hier ist nicht mehr der Prozess der Bewusstwerdung gemeint, sondern ein von der Leiblichkeit losgelöstes Bewusst-Sein, das sich seiner selbst ohne jeglichen äußeren Inhalt bewusst ist.

4. Geist-Taufe

Wie erhaben diese himmlische Erfahrung des Bewusst-Seins als Geist auch erlebt wird, lässt sie dennoch den Mystiker ernüchtert, gleichsam wie in einer „Wüste“ zurück. Zwar hat er sich über den Körper erhoben und die Weite des reinen Geistes jenseits von Raum und Zeit verwirklicht, jedoch keine Liebe darin erfahren.
^Das neue Testament berichtet, wie sich über Christus bei der Wassertaufe der Himmel öffnet und der Geist Gottes herabfährt und bei Ihm bleibt. Doch dieser Geist, mit dem sich Christus vereint, führt Ihn in die „Wüste“, in der Christus vom Widersacher angegangen wird. Er weist die Versuchung zur Selbstbezogenheit zurück, wendet sich an Gott Vater und beginnt Seine Mission, die Erlösung der Schöpfung, ihre Rückführung zum Göttlichen Vater.
Auch der Mystiker wird im Erleben des reinen Geistes versucht. Neigen wir in den Tiefen unserer Seele, wenn auch nur in subtiler Weise, zum Egoismus, dann werden wir in dieser Erfahrung unsere eigene Erlösung sehen. Glimmt jedoch Verantwortung, Mitleid und selbstlose Liebe zur Schöpfung Gottes in unserer Seele, dann vermag sich ihr Christus zu offenbaren und sie mit dem Heiligen Geist der Weisheit zu taufen; Er lässt die Seele an Seinem Wesen schauen, dass die eigentliche Erlösung nicht möglich ist, ohne die ganze Schöpfung miteinzubeziehen.
Da die Menschen in naher Zukunft vermehrt die Erfahrung des reinen Bewusst-Seins in seinem himmlischen Aspekt haben werden, ist es wichtig die Versuchung zu kennen, sich als von allem irdischen vollkommen befreite „Erleuchtete“ zu erleben, was zu Desinteresse und Lieblosigkeit gegenüber der Schöpfung führen würde. In Wirklichkeit offenbart sich in dieser Seinserfahrung das allgemeine Bewusst-Sein, der Geist in seiner Reinheit, welcher allem zugrunde liegt, der jedoch erst durch Christus geheiligt wird.
In dieser Neugeburt durch die Taufe des Heiligen Geistes verwirklicht die Seele die 3. Person der Dreifaltigkeit, von der Christus sagt: „Wenn jemand nicht aus Wasser und Geist geboren wird, kann er nicht ins Reich Gottes kommen“ (Joh 3,3). Die mit dem Heiligen Geist erfüllte Seele folgt dem Vorbild Christi, indem sie sich aus der himmlischen Weite der Erde zuwendet, um sich wie Christus mit ihrem Schicksal zu verbinden. Sie nimmt erneut, jedoch nun aus freiem Willen das Kreuz des irdischen Seins auf sich, denn die Liebe Christi ist nur durch diese Zuwendung zur Erde zu verwirklichen. Somit stellt diese vollkommene Reinheit der Seele keinen Selbstzweck dar, sondern die Vorbedingung, den Christus zu schauen. Indem wir uns an Christus wenden, vermögen auch wir der Versuchung zu widerstehen.
Dies stellt einen bedeutenden Schritt in Bezug auf unsere Entwicklung dar. Wir wenden uns nun mit neu entfachter Liebe, nicht um unserer selbst, sondern um der Menschheit und der Schöpfung willen, der Erde zu, um an der Seite Christi ein Mitwirkender zu werden.

5. Feuer-Taufe

Auf vielen Darstellungen weist Christus auf das brennende Herz inmitten Seiner Brust, denn das Herz stellt das Tor zu Ihm dar. Die dem Vorbild Christi folgende Seele wird im Weiteren das Herz mit dem geheiligten Geist zu umschließen suchen. Es entsteht eine neue Art des Gebets, von dem Johannes feststellt:
„Aber es kommt die Stunde und ist schon jetzt, dass die wahren Anbeter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit; denn auch der Vater will solche Anbeter haben. Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten“ (Joh 4,23-24).
Wird uns Gnade zuteil, öffnet sich dieses Tor des brennenden Herzens inmitten unserer Brust und die Seele, wie das Herz eingekleidet in Feuer und Licht, erhebt sich zu Christus, dem Feuer- und Lichtgleichen. Somit erfüllt sich die Aussage des Johannes des Täufers: „Ich taufe euch mit Wasser; es kommt aber ein Stärkerer nach mir, dem ich nicht genugsam bin, daß ich die Riemen seiner Schuhe auflöse; der wird euch mit dem heiligen Geist und mit Feuer taufen (Luk 3,16).
In einer innigen glückseligen Umarmung vollzieht sich die Geburt des neuen Adams, wodurch die Seele in Christus ihr Selbst erkennt, was sie ist und werden soll in Ewigkeit, denn „der erste Mensch ist von der Erde und irdisch; der zweite Mensch ist vom Himmel. (Kor 15,47). So spricht Christus: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben“ (Joh 11.25). Darin realisiert die Seele die 2. Person der Dreifaltigkeit.
Durch Christus schaut der Mystiker den weiteren feurigen Weg, an dessen Horizont ihm ahnend im Bild der Göttliche Vater angezeigt wird. Auf diese Weise erfüllen sich die Worte des Neuen Testaments: „Selig sind, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen“ (Mt. 5,8).
Zum Göttlichen Vater vermag die Seele nur an der Seite Christi zu gehen, indem sie mit Christus an der Erlösung der Schöpfung mitwirkt.
Auf diese Weise vollzieht sich das Sein im Werden, und die Worte Christi finden ihre Erfüllung: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich. Wenn ihr mich erkannt habt, so werdet ihr auch meinen Vater erkennen“ (Joh 14,5).
Verstehen wir den hier aufgezeigten Weg des Mystikers, der hier jedoch nur berührt werden kann, in rechter Weise, dann werden wir in der Lage versetzt die verschiedenen Aussagen im Neuen Testament in Bezug zum inneren Weg der Seele zuordnen zu können, diese als "Wegmarken" nicht vorwegzunehmen, jedoch die eigene Entwicklung an ihnen auzusrichten. Auch werden die über Jahrhunderte an uns überlieferte Christliche Symbolik ihrem Sinngehalt wieder belebt werden können.
In Bezug auf das Verständnis des Christentums stehen wir erst am Anfang. Gehen wir den uns im Neuen Testament aufgezeigten Weg des stillen Gebets, so werden wir die geistige Quelle unseres Glaubens wiederfinden und ihn durch unmittelbare Erfahrung bezeugen können.


Anmerkungen

1 Theresa von Avila, Weg der Vollkommenheit, Freiburg im Breisgau 2003, S. 142.
2 Zoran Perowanowitsch (Hrsg.): Die Wolke des Nichtwissens, Folge der Liebesregung deines Herzens, Ein christli cher Meditationsweg, mit Erläuterung aller Briefe, Sölden 2022, S. 73.

Artikel von Zoran Perowanowitsch Buchvorstellung

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