Die Wiederbesinnung auf den
christlich-mystischen Schulungsweg
Berg der Philosophen
Teil I
Über Jahrhunderte hinweg wurden in Europa andersdenkende christliche Strömungen verfolgt, wodurch ein großer Teil der spirituell- christlichen Erfahrungen unserer Kultur verloren gegangen ist. Was jedoch in all der Zeit im Verborgenen an Texten, Bildern und Symbolen bewahrt und weitergegeben wurde, ist dem heutigen Denken vielfach nicht mehr verständlich. Sowohl das Wissen, als auch die seelische Fähigkeit, sich in sie zu vertiefen, sind uns verloren gegangen.
Gelingt es uns jedoch durch ein meditatives Leben neue, erweiterte Erkenntniskräfte zu erlangen, beginnen sich uns viele Darstellungen schrittweise aufzuschließen. Auf diese Weise vermögen wir wieder an unsere eigenen spirituellen Wurzeln des christlichen Abendlandes anzuschließen.
Berg der Philosophen
Eines der zentralsten Bilder der christlichen Spiritualität ist der „Mons Philosophorum“ der „Berg der Philosophen“, welches uns in dem Buch „Die geheimen Figuren der Rosenkreuzer“ überliefert ist. Betrachten wir es mit den erweiterten, aus dem meditativen Üben hervorgehenden Seelenkräften der Imagination, Inspiration und Intuition, so stellt es uns den gesamten christlichen inneren Entwicklungsweg vor Augen.
Um uns schrittweise dem Sinngehalt des Bildes anzunähern, stellen wir uns eine vertikale Achse vor, die das Bild auf Abbildung 1 in zwei gleiche Hälften teilt. Diese vertikale Linie geht von der Krone oben zwischen dem schwarzen Raben und dem weißen Adler herab und verbindet den Kopf des nackten Mannes mit dem des Hasen. Eine horizontale Linie, die auf der Stirn des Mannes verläuft und den Hasen rechts von ihm und die Henne links verbindet, bildet ein Kreuz, das für unsere erste Betrachtung von Wichtigkeit ist. Es stellt die erste Stufe der inneren Entwicklung dar, die mit der Entwicklung von bewussten Erkenntniskräften beginnt. Der rosenkreuzerische Schulungsweg berücksichtigt somit, die sich verändernde Bewusstseinslage des Menschen, der seine geistige Konzentration immer mehr zur Stirnmitte verlagert und somit verstärkt die „Bewusstseinsseele“ entwickelt.
Der ganze Berg ist von einer Mauer umgeben, die den Bereich der Entwicklung in einen „inneren“ und „äußeren“ trennt. Vor der Mauer sehen wir drei Gestalten in den Farben Grün, Rot und Blau, die die Seelenkräfte des Denkens, Wollens und Fühlens symbolisieren. Zwischen ihnen springt ein Hase, als Bild für die noch willkürlich umherschweifenden Gedanken herum, die schnell von einer zur anderen Richtung wechseln. Diese innere Unruhe bildet die Ursache, dass unsere Seelenkräfte ungeordnet ineinander wirken. Je mehr die Willkür des Vorstellungslebens beruhigt wird, desto mehr differenzieren sich die einzelnen Seelenglieder des Denkens (Grün), Wollens (Rot) und Fühlens (Blau) heraus und treten in den Dienst des Ich (Mann).
Unter diesem Gesichtspunkt verstehen wir die ehrerbietende Gebärde der drei Gestalten vor dem Mann, der auf dem Weg der Läuterung seine alten „Kleider“ abgelegt hat. Dadurch vermag er die drei Seelenkräfte zu differenzieren und sich dienstbar zu machen. Sie werden der ihrer Natur entsprechenden jeweiligen Ebene zugeordnet und wirken erst so fruchtbar für das äußere und innere Leben. Sie sind es auch, die unsere Neigung zu einem mehr das Denken, Fühlen oder Wollen ansprechenden Schulungsweg bestimmen werden.
Diese ersten Schritte sind deshalb von großer Wichtigkeit, da die unsere Person bildenden drei Seelengrundkräfte im Laufe des inneren Schulungsweges zu einem gewissen Grade in das äußere Leben „entlassen“ werden und der weiteren Entwicklung nicht störend entgegenwirken sollen.
Die von Rudolf Steiner gegebenen „sechs Nebenübungen“, die mit der Gedankenkontrolle (Hase) beginnen und die ebenfalls von ihm angegebene Tagesrückschau dienen beispielsweise dazu, ein objektives Verhältnis zur eigenen Person zu erreichen und sind somit in Entsprechung zu dieser Ebene der inneren Schulung zu sehen. Durch diese Übungen soll unsere Person soweit gestärkt werden, dass sie, wenn sich unser „höheres Wesen“ aus der Gebundenheit an die Leiblichkeit herauszulösen beginnt, in ihrer eintretenden „Selbständigkeit“ weiterhin in harmonischer Weise im Alltag wirken kann.
Beginnt sich einem das Bild immer mehr zu erschließen, bemerkt man, das nichts nebensächlich oder unbedeutend ist. So tragen beispielsweise die grüne und blaue Gestalt gelbe Hosen, während die rote eine weiße trägt. Hier steht die gelbe Farbe für die der Sonne zugeordnete männlich-aktive Qualität, während die weiße Farbe das Silber des Mondes, die weiblich-passive Qualität symbolisiert. Durch diese Farbgebung der Beinkleider ist angedeutet, dass das Denken und Fühlen immer aktiver, der Wille dagegen immer passiver wird, d.h. einem mehr von außen, aus dem zu Werdenden, zuströmt. Ferner sind die Augen der grünen Gestalt (Denken) verbunden, was uns darauf hinweist, dass das Denken sein vom Ich abgewandtes Eigenleben ganz aufgeben soll.
Innerhalb der Mauer sehen wir rechts des Mannes im Schatten wieder den Hasen und links von ihm die im Hellen am blauen Wasser brütende Henne. Sie stehen für sich in uns entfaltende Seelenkräfte, wenn sich das zu Diensten stehende Denken (grüne Gestalt) und Wollen (rote Gestalt) links auf dem Bild zu der Geisteskraft der Aufmerksamkeit (Hase-Innen) vereinen. Das geläuterte Empfindungsleben rechts auf dem Bild (blaue Gestalt) wandelt sich in die Seelenkraft der Hingabe (Henne). Diese beiden Seeleneigenschaften bilden die Grundvoraussetzung einer jeden inneren Entwicklung und werden uns auf dem ganzen weiteren Weg begleiten, wobei der im Hellen brütenden Henne eine besondere Stellung zukommt. Denn die Hingabekräfte müssen, bevor sich das sinnlichkeitsfreie Denken durch die Vereinigung von Denken und Wollen entwickeln kann, immer mehr zur inneren Seelenhaltung der Demut gesteigert werden.
Ohne diese Seelenkraft der Demut, deren Entwicklung dem heutigen Menschen in seinem mehr an die eigene Person gebundenen Selbstbewusstsein besonders schwer fällt, ist eine höhere Entwicklung nicht möglich.
Die stets weiter gepflegte moralische Vervollkommnung bildet die Grundlage eines sich immer stärker an der Wirklichkeit bildenden Denkens (vergoldeter grüner Drache). Dadurch eröffnet sich uns die zweite Stufe des Bildes, die durch einen schwarzen Raben und weißen, silbernen Adler über dem Toreingang eingeleitet wird.
Taufe
Der schwarze Rabe über dem grünen Drachen ist das Symbol für ein Denken, das die Begrenztheit seiner Möglichkeiten erkannt hat und bereit ist, durch die Phase der Erneuerung, des Sterbens und Auferstehens hindurchzugehen, um sich in den weißen Adler zu verwandeln. Der Rabe hat sich zwar von der Identifikation mit dem Intellekt gelöst, ist jedoch noch an das Haupt gebunden, was bedeutet, dass er sich noch durch die erste Ebene der Polarität von Innen und Außen erfährt. Somit symbolisiert der schwarze Rabe das zu Ende gehende, an die Sinne gebundene Denken, während der weiße Adler den Beginn eines neuen Denkens markiert. Dieses erlebt sich weniger in der horizontalen-, als in der vertikalen Polarität von Oben und Unten, von Makrokosmos und Mikrokosmos. Der Übergang zu dieser neuen Ebene vollzieht sich in dem Augenblick, in dem das Ich die Polarität von Innen und Außen in der Erfahrung des einen Lebens überwindet und sich dadurch aus dem „Ort“ zwischen den Augen, an den der heutige Mensch auf der Ebene der Bewusstseinsseele in Bezug auf sein Denken und Selbstbewusstsein gebunden ist, herauslöst.
Überwindet er diese innere Gebundenheit an den horizontalen polaren Pendelschlag von Innen und Außen, so wird er sich unmittelbar seiner Vertikalen bewusst und dadurch seiner Wesenheit außerhalb des physischen Leibes, was zu der Imagination des „Gekreuzigt-Seins“ seiner Selbst am Körper führt.
Zwischen dem schwarzen Raben und dem weißen Adler ist über dem Tor eine weiße Fläche angebracht. Diese weist uns darauf hin, dass nur demjenigen Einlass zum Turm gewährt wird, dessen Denken der Reinheit eines „unbeschriebenen Blattes“ gleicht, das also nicht mehr von Vorstellungen und Neigungen der ersten polaren Ebene bestimmt wird.
Der weiße Adler steht somit für ein geläutertes Denken, das die weitere Entwicklung auf der Vertikalachse des Bildes und damit das sich Öffnen des Tores am Grunde des Turmes einleitet. Dies stellt einen bedeutenden Punkt der inneren Entwicklung dar, an dem sich das Bewusstsein ähnlich wie beim Wachstumsprozess einer Pflanze zu entfalten beginnt. Da das Ich seine Bindung an das Haupt zwischen den Augen überwindet, vollzieht sich ein Wechsel des „Ortes“, in dem das Ich-Bewusstsein im Grunde der Leiblichkeit eine „Grablegung“ erfährt, die dem Legen eines Samenkorns in die Dunkelheit der Erde gleicht. Der sich nun vollziehende Prozess entspricht einem „Chaos“, einem „Bad“ oder einer „Taufe“, aus der ein befreites Ich in der „Auferstehung“ hervorgeht.
Auf dem Turm über dem Raben sehen wir die Symbole der Sonne, des Mondes und des Merkur dargestellt. Der Merkur wird in der Rosenkreuzerweisheit auch als das Kind von Sonne und Mond bezeichnet, steht somit für den neugeborenen aus der Synthese der Polarität von Sonne (männlich) und Mond (weiblich) hervorgehenden neuen Menschen.
Himmelfahrt
Nachdem das Ich die „Grablegung“ (Samen), Taufe (Bad) und „Auferstehung“ aus der Dunkelheit am Grunde der Leiblichkeit erfahren und in den vereinigten, sich ergänzenden Qualitäten von Sonne und Mond seine neuen Wurzeln ausgebildet hat, erfährt es nun die zweite vertikale Ebene der Polarität, die von Himmel und Erde. Nun wirken die Himmelskräfte, um die vertikale Entfaltung wiederum von unten nach oben einzuleiten, die durch eine „Himmelfahrt“ die körperliche Begrenzung im „Erblühen“ überwindet. Es sind die Stufen des Turmes, die zu dem „Sternenbaum“ empor führen.
In den Überlieferungen unterschiedlicher Einweihungswege begegnet uns das Motiv des im dunklen Grunde eines Turmes eingesperrten Menschen, dem von oben ein befreiendes Licht zuströmt. In manchen Darstellungen wird diese geistige Erfahrung auch im Bild einer Taube dargestellt. So konnte Josef von Arimathia, der für 40 Jahre in einen Turm eingesperrt war, nur überleben, indem ihm jeden Tag eine Taube ein Stück Brot auf den Kelch legte, in dem er das Blut Christi aufgefangen hatte.
Auch in dem Buch „Die Chymische Hochzeit des Christian Rosencreutz“ findet sich Rosenkreutz in der Einweihungserzählung am Grunde eines Turmes wieder, durch dessen Öffnung oben Licht hereinstrahlt.
Das gleiche geistige Erleben liegt den folgenden Zeilen von Novalis zu Grunde:
Da ich so im stillen krankte,
Ewig weint und wegverlangte,
Und nur blieb vor Angst und Wahn:
Ward mir plötzlich wie von oben
Weg des Grabes Stein gehoben,
Und mein Innres aufgetan.
Auf der Darstellung des „Philosophenberges“ vereinigen sich links des Turmes in einem Bad Sonne und Mond, während aus dem rechts vom Turm stehenden Brennofen Rauch aufsteigt. Im Brennofen befindet sich ein Kolben, der den Prozess der geistigen Auferstehung aus der Leiblichkeit darstellt. In der Abbildung 2 ist dieser noch einmal detaillierter zu sehen. Es ist die sich durch ein Bad vollziehende Vereinigung von Männlichem (Sonne) und Weiblichem (Mond) am Grunde des Kolbens, aus der das neugeborene Ich, der „höhere Mensch“ (Merkur) hervorgeht, das dann in der Himmelfahrt jenseits des Kolbens, das heißt der Körperlichkeit erblüht.
Merkur (Hermes) ist der Götterbote zwischen Himmel und Erde. Er trägt auf Abbildung 3 in der rechten Hand den Schlüssel zu der Sphäre der kosmischen Weisheit Sophia, die jenseits des 7. Planeten Saturns intuitiv realisiert wird. In der linken Hand hält er den Merkurstab als Zeichen der Überwindung der Leiblichkeit durch die Vertikalkräfte seiner Seele, was ihn dann zu Jupiter, dem Planeten der Weisheit (Sophia) führt. Nachdem die horizontale polare Anschauung von Innen und Außen harmonisiert wurde, wird nun auch die vertikale Polarität von Oben und Unten überwunden, wodurch sich das Tor des siebten Planeten öffnet und die Fixsternsphäre in der Intuition realisiert wird.
Diese Stufe jenseits des Saturns wird auf dem „Philosophenberg“ durch den sternenbesetzten Baum dargestellt, zu dem uns das umgewandelte geläuterte Seelenleben führt. Hier erfahren wir zum ersten Mal „Sein“, im Sinne von „All-Ein-Sein“, jenseits aller Objekte der sinnlichen Polarität. Es ist die Erfahrung des geläuterten in reinstem Blau erstrahlenden Astralleibes, der in der Rosenkreuzerweisheit durch die Fixsternsphäre, in den christlichen Darstellungen durch den blauen sternenbesetzten Mantel der Maria dargestellt wird. Es ist die Intuition unseres Bewusst-Seins, der „blauen Blume“, nach der sich Novalis in der Suche nach „Sophia“ sehnt.
In diesem intuitiven Erfahren unseres reinen Bewusst-Seins, der „Leere“, jenseits aller Objekte der Sinneswelt, liegt die große Versuchung sich von der allgemeinen Entwicklung der Erde herauszulösen. Wenn unser Geist jedoch auf dieser Ebene des spirituellen Weges nicht selbstzufrieden im Glauben, bereits das „Ziel“ erreicht zu haben, verharrt, so können wir dem „Großen Hüter der Schwelle“, dem Christus, begegnen. Christus relativiert durch seinen Anblick der selbstlosen Liebe die Bedeutung des Erlebens dieser Ebene und weist uns wieder den Weg zur Erde.
Im zweiten Teil dieser Betrachtung wird anhand der Darstellung des „Philosophenberges“ weiterverfolgt, worin der Sinn einer individuellen Entwicklung auf dem christlich-spirituellen Entwicklungsweg liegt.
Bildnachweis:
1 Mons Philosophorum, Berg der Philosophen, Geheime Figuren der Rosenkreuzer, Altona 1785/88, Neuauflage, Berlin 1919, S. 11
2 Donum Dei, 17 Jh.
3 Hiebner von Schneeberg, Mysterium Sigillorum, Erfurt 1696
Anmerkung:
Für die Weihnachtsklausur 2012 wählte das Kollegium der „Freien Waldorfschule Karlsruhe“ das Thema Meditation. Während des von mir gehaltenen Seminars bildete das Bild „Berg der Philosophen“ die Grundlage, um den inneren Schulungsweg aufzuzeigen.
Teil II | Buchvorstellung | Artikel von Zoran Perowanowitsch | |||||