Vom Ich zum SELBST und vom SELBST zum ICH

Nicht wenige spirituelle Strömungen sprechen von der Notwendigkeit, völlige Selbstlosigkeit zu erreichen. Dabei geht es nicht nur um die Forderung, durch Bescheidenheit im moralischen Sinne selbstlos zu werden, sondern um die völlige Auslöschung des „Ich“, um eine Bewusstseinsebene jenseits unseres alltäglichen Lebens zu verwirklichen. Bei den meisten Menschen löst eine so allgemein gehaltene Aufforderung jedoch Widerspruch aus, da sie ihr Sein im „Ich“ empfinden.

Die Natur des Ich

Wird diese Anschauung jedoch unkritisch übernommen, führt sie zu einer zunehmenden Abneigung gegen das alltägliche Leben. Kommt dann noch die Sichtweise dazu, die Welt sei eine Illusion, kann das manchen Menschen philosophisch anregen, viele aber in ihrem spirituellen Streben auf Abwege führen, so dass sie sich in einer Zwischenwelt wiederfinden, in der sie im Vergleich zur physischen Welt kaum eine Korrektur erfahren, sodass sie sich noch tiefer in sich selbst verstricken.

Wodurch aber entsteht der instinktive Widerwille? Sagt nicht auch Christus: „Wer sein Leben erhalten will, der wird es verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es finden“ (Mt 10,39).

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zwischen dem Ich-Gefühl und der Ich-Vorstellung unterscheiden. Wenn wir unsere Mitte berühren und „Ich“ zu uns sagen, dann füllt sich diese nach einem kurzen Moment der Stille sogleich mit den Erinnerungen über die Eigenschaften unserer Person. Die „Stille“, bevor sie mit diesen gefüllt wird, empfinden wir mehr, als dass wir sie gedanklich erfassen können. Sie ist für uns ohne Inhalt, ohne Dimension, ein Raum, ein Nicht-Raum, eine Leere, die sich jeder Begrifflichkeit entzieht. Dennoch nehmen wir in dieser „Stille“ das „Ich“ intuitiv als den Grund unseres Seins wahr. Da aber in einem intuitiv erlebten Raum keine zwei gleiche Qualitäten nebeneinander existieren können, kann es nur ein „Ich“ geben.

Zu welchen geistigen Höhen wir uns auch aufschwingen, welche Bewusstseinserweiterung wir auch erfahren, wir werden immer im „Ich“ gründen und dennoch bleibt es ein unergründliches Geheimnis, so dass der christliche Mystiker Jakob Böhme vom „Ungrund“ spricht.

Um diesem näher zu kommen, haben die Menschen in den verschiedenen Kulturen Wege gesucht und ihre Erfahrungen von Generation zu Generation weitergegeben. Im Hinduismus finden wir die Aussage „neti neti“, was auf Sanskrit „nicht dies, nicht das“ bedeutet. In dieser Verneinung trachtet der Meditierende danach, das „Ich“ von allen es umkleidenden Hüllen zu befreien. In der abendländischen christlichen Tradition wurde dieser Weg der Negation als „negative Theologie“ bezeichnet. Ihren Ausdruck findet sie in der zweiten Predigt des Mystikers Meister Eckhart, in der er die Menschen dazu aufruft, sich von allen fremden Bildern zu lösen, um die ursprüngliche Reinheit der Seele wiederzuerlangen, so, „wie sie war, bevor sie war“.

Auch Rudolf Steiner gab entsprechende Anweisungen: „Da kann man ganz willkürlich das Bewußtsein leer machen, und man wacht. Man tut nichts als wachen durch seine Willkür. Man schläft nicht ein. Aber man hat nicht mehr die Sinneswelt vor sich. Man hat nicht mehr seine gewöhnlichen Gedanken und Erinnerungen in sich. Man hat leeres Bewußtsein. Da kommt aber nun sogleich eine wirkliche geistige Welt herein in dieses leere Bewußtsein.“1

Die Regungen unserer Seele sind in ständiger Veränderung begriffen, während das „Ich“ unser bleibendes Zentrum ist, dessen wir uns jedoch erst bewusst werden, wenn wir es nicht nur auf unsere Eigenschaften beziehen, sondern ein leeres Bewusstsein herstellen.

So besteht der erste Schritt eines inneren Erkenntnisweges darin, sich selbst als die Person wahrzunehmen, die wir sind, wodurch sie zum „Du“ wird. Es entwickelt sich ein schauendes Bewusstsein, welches nur dadurch möglich ist, dass es eine Instanz in uns außerhalb unserer gewöhnlichen Seelenregungen gibt. Von diesem Zustand wird heute in der spirituellen Literatur oft als dem des „Beobachters“, des „Zuschauers“ gesprochen, dem eine hohe, wenn nicht die höchste geistige Bewusstseinsebene zugeschrieben wird. Im Grunde aber verbirgt sich hinter dem schauenden Bewusstsein des „Beobachters“ immer noch das in Gedanken gekleidete „Ich“, das sich zwar bis zu einem gewissen Grad aus der Identifikation mit der eigenen Person gelöst, aber noch immer in einen Punkt hinter der Stirn zurückgezogen hat.

Schon die Tatsache, dass der „Beobachter“ seine Existenz aus seinem polaren Verhältnis zur Welt bezieht, zeigt, dass er selbst der sinnlichen Welt angehört. Dennoch ist diese Stufe der Entwicklung ein wichtiger Schritt auf dem inneren Weg, denn sie vermag im Weiteren durch annehmende Hingabe auch die tief sitzenden Vorstellungen wie „mein“ und „dein“, „Ich“ und „Du“ in die Stille zu führen. Dadurch wird das „Ich“ allmählich von der Bindung an den „Zufluchtsort“ befreit und offenbart sich auf der nächsten Stufe seiner Reinheit, auf der wir durch das Erleben unseres Seins das allgemeine Sein als Substanz der gewordenen Welt wahrzunehmen vermögen. Nun sind wir nicht mehr allein Beobachter der Welt, sondern beginnen zu erahnen, dass wir auf der Ebene des Seins von der gewordenen Welt nicht getrennt sind, da das Sein der Grund aller Dinge ist. Die Inder drücken dies in den Upanishaden durch: „Tat tvam asi“, „Das bist du“, aus.

Dass wir nicht nur eine physische Existenz haben, zeigt sich, wenn sich die Seele vom Körper löst und wir feststellen, dass wir ein ichbewusstes Wesen bleiben, welches die Fähigkeit zu denken und fühlen behält. So wie wir bereits die physische Welt wahrgenommen haben, sehen wir nun als derjenige, der wir auch auf der physischen Ebene waren, eine übersinnliche Welt. Es ist somit nicht richtig anzunehmen, dass wir im Übersinnlichen ein völlig anderes Wesen werden. Da unser Seelenleben bereits jetzt an beiden Welten Anteil hat, hört das Mensch-Sein in der geistigen Welt nicht auf. Denn es gibt im Sein der Schöpfung keine solche Trennung in physische und übersinnliche Welt. Deshalb ist es wichtig, sich schon auf Erden auf die Herausforderungen vorzubereiten, die mit der Loslösung der Seele vom Körper einhergehen. Die Tendenzen der Seele in uns, die einer Entwicklung entgegenstehen, können sich in dem Moment, in dem sie von der Bindung an den Körper befreit sind, verstärken und uns zu unguten Handlungen drängen.

Das SELBST

Der Überlieferung zufolge befand sich am Eingang des Tempels von Delphi die Inschrift „Erkenne dich selbst“. Es wäre jedoch nicht richtig, diese Aufforderung ausschließlich psychologisch zu deuten. Der Tempel galt als irdischer Wohnsitz des Göttlichen. Diesen Ort können wir zwar betreten, doch müssen wir, um dem Göttlichen dort zu begegnen, zuerst das SELBST erkennen, das jedem Menschen innewohnt. Dazu ist es nötig, die unser „Ich“ in vielen Farben umhüllende Seele zu läutern, bis sie schließlich, des physischen Körpers „entkleidet“, in ihrer Reinheit als Geist, als Bewusst-Sein erstrahlt. In dieser Nacktheit erkennen wir die Seele frei von allen fremden Bildern „wie sie war, bevor sie war“.

Das „Ich“, nicht mehr als ein sich ständig formender Gedanke, sondern ein Grundgefühl, wie wir es aus unserem täglichen Leben kennen, bleibt auch auf dieser kosmischen Ebene der geläuterten Seele erhalten. Aus diesem Grund sollten wir den pauschalen Aufforderungen, das „Ich“ zu überwinden, mit größter Skepsis begegnen. Auf einem meditativen Weg geht es nicht um die Überwindung des „Ichs“, sondern um die Überwindung der es überlagernden Identifikationen und der Anschauung, dass unser „Ich“ und die Seelenqualitäten durch den Körper hervorgerufen werden. Die reine, von Verdunkelungen befreite Seele ermöglicht es uns, unser aller SELBST zu schauen. Doch zuvor müssen wir eine Prüfung bestehen.

Wenn wir auch intuitiv die reine Seele als Geist und Bewusst-Sein erfahren, sind damit nicht alle unsere Neigungen ausgelöscht, denn insbesondere die Eitelkeit als Kehrseite der Schönheit macht sich bei dieser Erfahrung geltend. Die Wurzel dieser Eitelkeit liegt darin, dass wir auf der kosmischen Ebene der Seele die Erfahrung des Alleinseins machen, das heißt, kein anderes Wesen außer uns selbst wahrnehmen. Beziehen wir dieses Alleinsein auf uns selbst als „All-Ein-Sein“, besteht die Gefahr der Selbsterhöhung, indem sich der Mensch, wenn er sich wieder im physischen Leib findet, über die anderen Menschen erhebt. Derjenige jedoch, der mit hingebungsvoller Seele Selbsterkenntnis sucht, wird von einer solchen Erfahrung, in der kein anderes Wesen zu erkennen ist, ernüchtert zurückbleiben, denn wie erhaben ein solcher Bewusstseinszustand auch sein mag, entspricht er nicht seiner mitfühlenden Verantwortung für alle Wesen. Eine solche innere Haltung erwächst aus der Wärme des Herzens und führt zu der ihr gemäßen geistigen Entsprechung. An diesem Punkt der inneren Entwicklung ereignet sich das, wovon Rudolf Steiner als der Begegnung mit dem „Großen Hüter der Schwelle“, dem Christus spricht.

Christus offenbart uns, dass wir nur wie Er werden können, wenn wir nicht unser eigenes Heil im All-Ein-Sein suchen, sondern, seinem Weg folgend, uns der Erde zuwenden, um an seiner Seite Mitwirkende an der Erlösung der Schöpfung zu werden. Durch die Entscheidung, in Hingabe Christus nachzufolgen, wird ein Keim in unsere Seele gelegt, der unseren Charakter zu erleuchten vermag.

In der Anthroposophie finden wir die Entsprechung zu diesem sich vollziehenden Prozess in der Verwandlung des Ätherleibes durch Christus zum „Lichtleib“, zum „Liebesleib“. Ist dieser Prozess bis zu einem gewissen Grad vollzogen, kann sich Christus uns als das SELBST der Menschheit offenbaren.

Wie bei der Erfahrung des reinen Geistes als Bewusst-Sein, die in der Anthroposophie mit dem Begriff des „Geistselbst“ bezeichnet wird, handelt es sich auch bei der Schau des SELBST um eine intuitive Erfahrung. Bis zu einem gewissen Grade werden wir eins mit einem Wesen, dessen Qualität die unermessliche annehmende Liebe ist, die wir als dieselbe Qualität erkennen, die uns aus den Evangelien entgegen strömt. Und doch ist die Quelle dieses Stromes nicht allein in den historischen Überlieferungen über das Leben Christi zu suchen, sondern im unmittelbaren Wirken Christi, der verkündet: „Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende“ (Mt 28,20). Auch wenn sich auf dieser Ebene eine Vereinigung mit Christus vollzieht, können wir uns diese unermessliche Liebe weder zu eigen machen, noch erlangen wir ein „Allwissen“ oder gar die „Allmacht“ des Göttlichen. Vielmehr handelt es sich um ein intuitives Innewerden eines Seinszustandes, in dem wir, wie in der intuitiven Erfahrung des geläuterten Astralleibes, in unserem „Ich“ zugleich der Erkennende bleiben.

Wurden wir vor der Erfahrung des reinen Astralleibes unseres physischen Leibes „entkleidet“ und hat sich uns die Seele in ihrer ursprünglichen Natur offenbart, so erhält unser „Ich“ in der Erfahrung des SELBST im Christus einen neuen Leib. Dieser Vorgang wird im Neuen Testament mit folgenden Worten beschrieben: „Wir dagegen haben unsere Heimat im Himmel. Von dort erwarten wir auch Jesus Christus, unseren Herrn und Retter. Dann wird er unseren hinfälligen, sterblichen Leib verwandeln und ihn dem herrlichen, unvergänglichen Leib gleich werden lassen, den er selbst nach seiner Auferstehung empfangen hat“ (Phil 3,20-21). Dieser neue Leib ist wie Christus aus Licht und Feuer gewoben, und wir sehen wie zuvor die ursprüngliche Seele, so nun den ursprünglichen Leib und was wir in Christus nicht allein als Individuum sondern als Menschheit von Natur aus sind und in Christus werden sollen. So werden die Worte Christi: „Ich lebe in ihnen und du lebst in mir, so sollen auch sie ganz eins sein...“ (Joh 17,23) zur lebendigen Wirklichkeit.

Wenn Christus von sich sagt, er sei das Leben (Joh 14,6), dann ist das nicht nur im übertragenen Sinne gemeint. Christus ist Ursprung und Grund der Schöpfung, in dem wir als Menschheit vereint sind, der uns sehnsüchtig zu sich zieht, weil er in unser aller Herzen Wohnung genommen hat. Unser unmittelbares Sein ist Christus, und doch müssen wir einen mühsamen Weg gehen, denn Gott schuf den Menschen nicht nach seinem Ebenbild, sondern seinem Abbild. Aus diesem Grund können wir uns kein Bild von Gott, dem Vater machen, wohl aber von seinem Sohn Christus, in dem sich der Vater offenbart. So hat Christus einen Keim in uns gelegt, ein Bild, das wir als höchstes Menschheitsideal in uns tragen und dem wir folgen können. In dieser intuitiven Erfahrung des Christus haben wir keine endgültige Selbstverwirklichung vollzogen, sondern einen Ausblick auf das zu Werdende erhalten, um dessen Integration auf Erden wir uns weiterhin bemühen müssen. Die Seele wird erfüllt vom Glück des Nicht-Seins. Dies bedeutet nicht, die eigene Existenz aufzugeben, sondern vielmehr, dass die Seele von der Liebe zum Sein erfüllt wird, wenn wir die Identifikation mit der uns einengenden eigenen Person überwunden haben. So dienen alle Anleitungen zur Seelen- und Charakterbildung, die Rudolf Steiner gegeben hat, nicht nur dazu, den nächsten Schritt tun zu können, sondern bereiten eine weitreichendere Entwicklung vor. Haben wir die vorbereitenden Übungen nicht in der rechten Weise gemacht, müssen wir nun feststellen, dass es uns jetzt besonders schwer fällt, ungute Gewohnheiten zu korrigieren.

ICH-BIN

Im SELBST-SEIN offenbart uns Christus den weiteren aus Licht und Feuer gewobenen Weg. Jeder Schritt zum ICH des Vaters wird nur in dem Maße möglich, wie es uns gelingt, die neuen „Kleider“, den neuen Leib aus Licht und Feuer, in Hingabe würdig zu tragen und so Christus immer mehr zu verinnerlichen. In diesem Erleben bestätigen sich die Worte Rudolf Steiners: „Nicht von uns aus können wir selbst rein und heilig werden, sondern nur von diesem Christus-Leben aus. All unser Streben und Ringen ist vergebens, solange uns nicht dies höhere Leben erfüllt. Das allein kann wie ein lauterer, reiner Strom alles hin­wegspülen aus unserem Wesen, was noch  ungeläutert ist.“2 Auch wird in der Erfahrung des SELBST die Aussage Christi: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich“ (Joh 14,6) in ihrer Realität erfahren.

In der Bibel heißt es ferner: „Seid stille und erkennet, dass ich Gott bin!“ (Ps 46,11) Eine so einfach klingende Aussage wird leicht überhört, obwohl sie unabhängig unserer Kultur- oder Religionsangehörigkeit das Tor zu unermesslichen Weiten zu öffnen vermag. Auf diesen Psalm kann sich auch ein hinduistischer Heiliger wie der weit über Indien hinaus bekannte Ramana Maharshi beziehen, wenn er feststellt, dass in dieser Aussage der Bibel die gesamte Lehre der heiligen Schriften der Veden zusammengefasst ist und sie zur Erkenntnis des wahren SELBST führt, dessen Wohnstätte er im Zentrum des Herzens schaut. Auf eine andere Bibelstelle bezieht sich der indische Heilige mit der Feststellung, dass der treffendste Name Gottes ICH BIN der ICH BIN sei.

Stille entsteht durch Selbstlosigkeit, aber nicht dadurch, dass wir „Ich“-los werden, sondern dadurch, dass wir den „Ich“-Bezug aufgeben. Unser alltägliches „Ich“ lässt uns die diesseitige Welt durch den Leib erfahren, sodass wir, indem wir uns mit ihm identifizieren, sagen: „Ich gehe“, „Ich stehe“ oder „Ich bin“ an dem Ort, an dem sich unser Leib gerade befindet. Dass wir aber in allen Freuden und Leiden unseres irdischen Daseins das Ahnen unseres Göttlichen ICH bewahrt haben, kommt in den Ausdrucksweise „ICH habe einen Leib“, „ICH denke“, „ICH fühle“ zum Ausdruck. Das hängt damit zusammen, dass wir nicht der Leib mit den Fähigkeiten des Denkens und Fühlens selbst sind, sondern einen solchen haben. So erfüllt uns die Ahnung, dass das ICH schon im „Ich“ anwesend ist, sodass wir die folgenden Christusworte verstehen können: „Wenn ihr mich wirklich kennt, werdet ihr auch meinen Vater kennen. Ja, ihr kennt ihn schon und habt ihn schon gesehen!“ (Joh 14,7).

Das Sein des Vaters wird durch ICH BIN der ICH BIN wiedergegeben, wodurch ausgedrückt wird, dass Er selbst der Unoffenbarte, in sich Seiende ist. Seine erste Offenbarung vollzieht sich dadurch, dass das ICH des Vaters Eigenschaften annimmt, was im „erstgeborenen Sohn“ zum Ausdruck kommt, wenn Er von sich sagt:

Ich bin das Brot des Lebens (Joh 6,35)
Ich bin das Licht der Welt (Joh 8,12)
Ich bin die Tür (10,9 Joh)
Ich bin der gute Hirte (Joh 10,11)
Ich bin die Auferstehung und das Leben (Joh 11,25 )
Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben (Joh 14,6)
Ich bin der wahre Weinstock, und mein Vater ist der Weingärtner (Joh 15,1)

Christus repräsentiert in seinem SELBST göttliche Eigenschaften und wird dadurch das Tor zum Göttlichen ICH, was sich in unzähligen Darstellungen widerspiegelt, in denen Christus auf das aus Licht und Feuer bestehende Herz inmitten seiner Brust zeigt.

Gewöhnlich setzen wir uns in ein polares Verhältnis zum Gegenstand unserer Wahrnehmung und versuchen, durch unser Denken und Fühlen eine Erkenntnis über das Wesen dessen zu gewinnen, was uns gegenübersteht. Auf der intuitiven Ebene der reinen Seele als Bewusst-Sein und im Wiederfinden unser aller SELBST in Christus ist diese Polarität überwunden, sodass wir gleichsam das Wahrzunehmende selbst sind. Doch dürfen wir uns das nicht so vorstellen, als ob derjenige, der eine solche intuitive Erfahrung macht, in dieser Einswerdung Christus auf allen Ebenen seiner Existenz selbst wird. Wir bleiben, wenn auch vom physischen Körper entkleidet und von der Intuition durchdrungen, der Mensch, der wir sind und diese Seinserfahrung durchlebt. So setzen wir uns als Ich-Wesen auch auf der intuitiven Ebene letztlich in Beziehung zu dieser Erfahrung und können so als Alltagsmensch eine Erinnerung daran bewahren.

Das Göttliche ICH dagegen, auf das uns Christus wie in der Ferne hinweist, können wir nur erahnen und sein Abbild in unserem „Ich“ erkennen. Um aber das ICH intuitiv zu verwirklichen, müssten wir das „Ich“ vollkommen aufgeben, um es im ICH wiederzugewinnen.

Ob dies in dem Göttlichen Plan vorgesehen ist, sei dahingestellt, denn die Vorstellung der Verwirklichung eines „letzten Zieles“ ist in einem Sein, welches weder Anfang noch Ende kennt, ein Widerspruch in sich. So verfügen auch spirituelle Lehrer, die von sich behaupten, das letzte Ziel in der Vereinigung mit dem Göttlichen erreicht zu haben, nicht über die Allwissenheit und Allmacht Gottes.

Selbst wenn wir die Wahrnehmung haben, auf dem meditativen Weg von einer Bewusstseinsstufe zur nächsten, vom Ich zum SELBST und schließlich zum ICH fortzuschreiten, so ist der Grund aller spirituellen Entwicklung von Anfang an das Göttliche ICH. Wie weit wir in unserem Bemühen auch fortschreiten, das ICH wird immer ein Geheimnis bleiben. Es leuchtet uns aus der Ferne entgegen und ist gleichzeitig in unserem Ich gegenwärtig. Es bleibt ein unbegreifliches Mysterium und ist uns zugleich so unmittelbar nahe wie die Brille auf der Nase, die wir überall eifrig suchen.

Anmerkungen

1 GA 243, S. 44.
2 GA 266, Band 3, S. 346


Artikel von Zoran Perowanowitsch Buchvorstellung